THE IRISHMAN ist ein Film über das Altwerden und das Sterben. Und zugleich ein illusionsloser Blick auf das eigene Schaffen. Noch einmal erzählt Martin Scorsese ein großes Mafia-Epos. Und noch einmal versammelt er dafür die Schauspieler, welche ihn über Jahrzehnte hinweg begleitet und seinen Filmen unverwechselbare Gesichter gegeben haben. Helden waren Robert De Niro, Joe Pesci und Harvey Keitel bei Scorsese zwar nie. Doch nun verkörpern sie nicht einmal mehr die großen Antihelden. Die Naivität aus MEAN STREETS, das Abenteuer aus GOODFELLAS und der Glamour aus CASINO sind einer Traurigkeit gewichen, welche die komplette Handlung durchtränkt.
Von Henry Hills und Sam Rothsteins Erzählerstimme ließen wir uns noch dazu verführen, der Faszination des Gangstermythos zu verfallen, die aggressiven und übermütigen Charaktere dieser Gegenwelt zu bewundern. Doch mit THE IRISHMAN zerstört Scorsese das Bild, welches er über Jahrzehnte hinweg selbst erschaffen hat. Denn nach Raoul Walsh und Howard Hawks stand er zumindest im US-amerikanischen Kino wie kein anderer für das Genre des Gangsterfilms und prägte es durch eine Handschrift, die nicht nur Robert De Niros Regiedebüt A BRONX TALE beeinflusste.
THE IRISHMAN hebt die dunklen Seiten der bisherigen Erzählungen hervor: Die Gewalt, die Abhängigkeitsverhältnisse, das Misstrauen, den Verrat und eine nagende Einsamkeit, die sich trotz der Männerbünde einstellt. Auf diese Weise erhält das Gangsterleben eine Trostlosigkeit und Kälte, die es in Wahrheit schon immer ausgezeichnet hat. Denn durch die Aussagen der Pentiti wissen wir: Die selbsterklärten »Ehrenmänner« der Cosa Nostra – das gilt für jede Verbrecherorganisation – buckeln nach oben und treten nach unten. In diesem Sinn ist THE IRISHMAN realistischer als Scorseses frühere Filme. Dieser Eindruck wird noch durch Bauchbinden verstärkt, wenn eine neue Figur in die Handlung tritt. Sofort weist uns der Regisseur darauf hin, wann der Betreffende durch welche Mordart starb.
Damit ruft uns Scorsese immer wieder in das Bewusstsein: Wenn wir geboren werden, gibt es nur eine Gewissheit – der Tod ist unausweichlich. Die Morde in GOODFELLAS oder CASINO waren noch von der Spannungserzeugung geprägt. Von der Angst, es könne jeden jederzeit treffen, wenn er einen Fehler macht. Das ist das katholische Motiv in Scorseses Gangsterfilmen: Bewegung ist mit der Androhung von Strafe verbunden. Dies entspricht einem mittelalterlichen Denkmuster, in welchem die Mafia den strafenden Gott repräsentiert. Die Omerta ist ihr Katechismus. Das memento mori bezieht sich hier nicht auf das Jenseits, sondern auf die Gegenwart. Die Morde, welche Frank Sheeran verübt, rufen keinen Nervenkitzel mehr hervor. Er handelt mechanisch und ist vollkommen unberührt. Und wenn er nüchtern davon erzählt, welche Waffe man verwenden und wo man sie entsorgen muss, dann wirkt das wie eine Verdrängung, die das eigene Handeln rationalisieren soll. Dies sehen wir bereits, als er Bufalino von seinem Mord an den deutschen Soldaten erzählt. Kurz vorher haben wir die Melodie aus Jacques Beckers TOUCHEZ PAS AU GRISBI gehört. So müde und einsam wie Monsieur Max wird auch Sheeran am Ende seiner Gangsterkarriere sein. Vorbei ist die Zeit, in der das vermeintliche Lebensgefühl dieser Gegenwelt noch mit Popmelodien und einem entsprechenden Schnittrhythmus auf die Kinoleinwand gepinselt wurde.
THE IRISHMAN führt uns in eine Welt, wo der Kleinheitswahn, die Paranoia, regiert. Aufrichtigkeit und Wahrhaftigkeit suchen wir vergebens in dem Verhältnis zwischen den Figuren. Sie alle reden ihren Kumpanen nach dem Mund, um bloß nicht selbst in die Schusslinie zu geraten und von dem ständigen Misstrauen der anderen Mafiosi aufgefressen zu werden. Offiziell geht es immer um das Du, das Wohl der Gemeinschaft und die gegenseitige Unterstützung. Das führt uns den alten Mythos der Mafia als »comunismo occulto« vor Augen. Aber hinter dieser Fassade verbergen die Figuren einen rücksichtslosen Egoismus, ihr Bedürfnis nach Macht durch Haben. Wer Geld schuldig bleibt oder die Geschäfte schädigt, wird zusammengeschlagen oder umgebracht. Wie im Stalinismus überlebt hier, wer auf Linie bleibt und nicht durch eine Kontaktschuld oder das Eintreten für die falsche Person zum Saboteur ernannt wird. Mehrfach sehen wir, wie Frank Sheeran sich im Gespräch mit Bufalino und Salerno als verständnisvoller und eilfertiger Vermittler anbietet, nur um dann wieder Jimmy Hoffa zu umschmeicheln. Dieser widersetzt sich der unausgesprochenen Regel, weil er nicht vom Kleinheitswahn, sondern vom Größenwahn angetrieben wird. Immer wieder gerät Hoffa aus der Fassung und wird aggressiv, wenn sein Bedürfnis nach Macht durch Sein unbefriedigt bleibt. Er spricht die Bigotterie seiner Komplizen offen an, und gerade das wird ihm zum Verhängnis. Das Gleiche gilt für den Gangster Crazy Joe, dessen Ermordung den Tod Hoffas vorwegnimmt.
Zwar überlebt Frank Sheeran alle Weggefährten. Aber deshalb ist er nicht der Glücklichere. Die komplette Geschichte hindurch sucht er nach einer Vaterfigur und findet sie in dem Mafia-Oberhaupt Russel Bufalino, der Sheeran »seinen Jungen« nennt. Als dieser Sheeran einen Ring schenkt, welcher ihn als Gefolgsmann schützen soll, wirkt das beinah wie eine Verlobung. Dadurch weist Scorsese auf die homosexuelle, sadistische Atmosphäre in diesem Männerbund hin. Die Frauen spielen hier nur die Rolle der mütterlichen Unterstützerin, die ihren Männern die blutigen Hemden waschen. Bufalinos Ring ist ein Danaergeschenk, denn kurz darauf zwingt er Sheeran, dessen langjährigen Freund und Gewerkschaftsbruder Jimmy Hoffa zu ermorden. Diese Tat werden beide Männer bis zu ihrem Lebensende bereuen. Bufalino spricht es aus, bei Sheeran erkennen wir es an seinen traurigen Blicken. Durch die verhängnisvolle Bindung an seine Ersatzfamilie verliert Sheeran schließlich die eigene Tochter. Sie hat schon als Kind ein besseres Gespür für die Abgründe, die sich hinter der Geheimniskrämerei und der biederen Fassade der Gangster auftun.
Hier erinnert THE IRISHMAN an De Niros zweite Regiearbeit THE GOOD SHEPHERD, wo die Liebe zwischen einem Vater und seinem Sohn ebenfalls durch ein ohrenbetäubendes Schweigen und die dahinter verborgene Gewaltbereitschaft zugrunde geht. Beides steht dort im Zusammenhang mit dem großen Weltgeschehen. Aber die Mechanismen sind die gleichen. Deshalb kann THE GOOD SHEPHERD als Mafiafilm im Gewand des Agentendramas betrachtet werden. Das zeigt uns bereits die kurze Begegnung zwischen der an Sam Giancana und Santo Trafficante angelehnten Figur Joseph Palmi und dem CIA-Abwehrchef Edward Wilson. In THE IRISHMAN werden die Ermordung John F. Kennedys und die Watergate-Affäre zum Hintergrundrauschen im Fernseher. Geschichte bezieht sich hier auf das Innenleben der Mafia, die sich bisweilen in das äußere Geschehen einmischt.
Deshalb wartet am Ende nur noch Verlust. Es gibt Bedauern, aber kein Bekenntnis. Und dadurch auch keine Erlösung. Nicht für die Opfer, welche über den Tod Hoffas im Unklaren bleiben. Nicht für den Täter, der im Gegensatz zu seinem Ziehvater sogar die Absolution der Kirche verweigert. So sehr, wie Sheeran nach einer Ersatzfamilie gesucht hat, so verzweifelt sehnt er sich im Angesicht des Todes nach einem Sinn, der das Erlebte und Erlittene rechtfertigen würde. Durch Sheerans Offenbarung, mit welcher er uns als Zuschauer in den Kreis der »Goodfellas« einlädt, soll die Tür einen Spalt weit offenbleiben. Doch es gibt nur die eigene Erinnerung an längst vergessene Weggefährten, das Feilschen mit dem Bestatter und einen ängstlichen Blick auf die eigene Grabstätte. Auch der Ring taugt nicht mehr als Ehrenmedaille. Wieder schildert Martin Scorsese den Rückblick auf ein Gangsterleben. Was bei Henry Hill und Sam Rothstein ein nostalgisches Schwelgen in aufregenden Erinnerungen war, wird bei Frank Sheeran zu einer traurigen Meditation über die Vergänglichkeit. Und über die Vernichtung des Sein durch das Haben. Es bleibt die Hoffnung, dass sich mit dem ausgehenden Licht im Seniorenheim nicht auch die Leinwand verdunkelt.
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Abbildungen
Titelbild + Abb 1.
Filmstills aus:
THE IRISHMAN (Marin Scorsese. US 2019)
Filme
THE IRISHMAN (Martin Scorsese. US 2019)
THE GOOD SHEPHERD (Robert De Niro. CA 2004)
CASINO (Martin Scorsese. US, FR 1995)
A BRONX TALE (Robert De Niro US 1993)
GOODFELLAS (Martin Scorsese. US 1990)
MEAN STREETS (Martin Scorsese. US 1973)
TOUCHEZ PAS AU GRISBI (Jacques Becker. Fr 1954)