»You’ve gotta be good in that town if you want to beat the crowd.«


King Vidors Stummfilm THE CROWD (1928) und der zwanzig Jahre später gedrehte THE FOUNTAINHEAD (1949) ragen aus den Melodramen des Hollywood-Urgesteins heraus. Beide haben den Menschen in der Masse – so der deutsche Titel von THE CROWD – zum Thema, die Spannungen zwischen Individuum und Kollektiv. Die Filme verhalten sich zueinander wie Spiegelbilder oder Gegenentwürfe ihres Regisseurs. Das verbindende Motiv ist die untergründige Angst vor dem Tod, vor der Auslöschung aus dem kollektiven Gedächtnis. Zum Vorschein kommt diese Angst in dem Wunsch, aus der Masse herauszuragen, »nach oben« zu kommen. Der gemeinsame Schauplatz der Filme ist die Stadt, das Urbane als widersprüchlicher Wohnort unzähliger Individuen, die sich gleichzeitig in der Masse geborgen fühlen, aber auch in ihr vereinsamen können.

Nobody

Filmbesprechung The Crowd
Filmstills aus THE CROWD

In THE CROWD ist es die Metropole New York, in der John Sims (James Murray) seinem Traum nachgeht, »somebody big« zu werden, sich aber ständig vom Untergehen in der Masse bedroht sieht. Sein Scheitern, das in der Arbeitslosigkeit endet, wirkt sich schließlich auf seine Ehe aus, in der Sims zu Beginn noch Geborgenheit findet. Das gemeinsame Streben nach Glück durch Erfolg ist wie ein Vertrag, den die Partner schließen. Dies wird schon bei ihrer ersten Begegnung deutlich. Bei einer Bustour durch New York erblicken sie einen Hilfsarbeiter, der im Clownskostüm Werbetafeln durch die Straßen trägt. Das ist Sims’ Horrorvision: Ein von seiner Eigenheit völlig entfremdeter Niemand, eine sprichwörtliche Witzfigur. Dieses Bild muss Sims durch Spott abwehren und macht sich über den Mann lustig: »Armer Idiot! Sein Vater dachte bestimmt, er werde Präsident«. Sims will nicht wahrhaben, dass ihm hier sein mögliches Schicksal vor Augen tritt. Später wird er in einer tragisch-komischen Wendung selbst dieses Clownskostüm überziehen. Die Begegnung des Paares im Feierabendverkehr der Stadt sowie die darauf folgenden Szenen des Ehelebens erinnern an das Gedicht ABENDSCHLUSS von Ernst Stadler. In der scheinbaren Idylle und dem Versprechen von Geborgenheit ist bereits die Kehrseite, der Hauch von Vergänglichkeit enthalten:

»Die Uhren schlagen sieben. Nun gehen überall in der Stadt die Geschäfte aus.
Aus schon umdunkelten Hausfluren, durch enge Winkelhöfe aus protzigen Hallen drängen sich die Verkäuferinnen heraus.
Noch ein wenig blind und wie betäubt vom langen Eingeschlossensein
Treten sie, leise erregt, in die wollüstige Helle und die sanfte Offenheit des Sommerabends ein.
[…]
Und manchmal, wenn von ungefähr der Blick der Mädchen im Gespräch zu Boden fällt,
Geschieht es, daß ein Schreckgesicht mit höhnischer Grimasse ihrer Fröhlichkeit den Weg verstellt.
Dann schmiegen sie sich enger, und die Hand erzittert, die den Arm des Freundes greift,
Als stände schon das Alter hinter ihnen, das ihr Leben dem Verlöschen in der Dunkelheit entgegenschleift.«

John Sims’ Kindheitstraum war es, Präsident zu werden, doch der Drang, sein Talent zu verwirlichen, verleitet ihn dazu, aller Lebensklugheit zum Trotz eine Beschäftigung aufzugeben, die ihm ein Mindestmaß an Sicherheit, ein geregeltes Einkommen, garantiert. Erst durch seine Nemesis versöhnt sich John Sims schließlich sowohl mit seiner Frau, die von den Verwandten dazu gedrängt wird, ihren Partner zu verlassen, als auch mit dem Gedanken, in der Masse unterzugehen, ein John Doe zu bleiben, womit die Amerikaner den namenlosen Jedermann bezeichnen. THE CROWD handelt also von den beiden Arten, Unsterblichkeit zu erlangen: Einmal biologisch, durch die Weitergabe der DNA und zweitens durch die Verwirklichung der eigenen Talente, die im Idealfall einen Eintrag in den Geschichtsbüchern mit sich bringt. Das ist der American Dream, in dem jeder die Chance hat, durch harte Arbeit ganz nach oben zu kommen, reich und berühmt zu werden. In THE CROWD geht dieser Traum verloren: Aus dem somebody, in den die Eltern ihre Hoffnung gesetzt haben, ist ein everybody geworden. Allein die naive Bewunderung seines Sohnes, der »werden will wie sein Vater«, hält John Sims vom Selbstmord ab. Am Ende, in einem Kinosaal sitzend, lacht das Paar erneut. Die finale Kamerafahrt über die Zuschauermenge ist das resignative Echo der ersten Einstellung des Films, bei der die Kamera zunächst am majestätisch und zugleich erdrückend wirkenden Hochhaus emporsteigt und nach einer weiteren Fahrt über die Schreibtische eines endlos langen Großraumbüros auf dem Namensschild von John Sims landet. In dem Meer von Schreibtischen ist John Sims nur eine kleine Nummer. Und in der Emporfahrt wirkt das Hochhaus gleichzeitig wie ein Schacht, in den der Zuschauer zu fallen droht. Immer wieder tauchen im Film Metaphern von Aufstieg und Fall auf, zum Beispiel im Bus, auf Coney Island und an den Niagarafällen. Am Ende ist John Sims wieder da, wo seine Reise begonnen hat: Er geht unter, oder besser gesagt auf, in der Masse seiner fellow-ctizens.

Somebody

Filmbesprechung Te Fountainhead
Filmstills aus THE FOUNTAINHEAD

In THE FOUNTAINHEAD erzählt King Vidor von dem an Frank Lloyd Wright angelehnten Architekten Howard Roark (Gary Cooper), der seine Vision gegen alle Widerstände durchsetzt. Der Film wirkt wie eine Apotheose der künstlerischen Persönlichkeit oder allgemein: Der Eigenheit des Individuums. In der letzten Einstellung steht Roark regelrecht über allem. Wie ein aus Marmor gehauenes Postament seiner selbst thront er auf seinem jüngsten Gebäude, das alle anderen Wolkenkratzer der Stadt überragt, und erwartet seine Geliebte Dominique Francon (Patricia Neil), die sich ihm endlich hingibt. Den Marmor hat er vorher zum Broterwerb noch mühsam aus dem Steinbruch klopfen müssen. Als Lohn für die von Einsamkeit, sexueller Entsagung und Armut begleitete Unbeirrbarkeit folgen am Ende das Glück der Partnerschaft und künstlerischer Erfolg, oder besser gesagt: Beide Arten der Unsterblichkeit. Diese Entwicklung verdeutlicht Vidor durch ein Spiegelbild: Im Steinbruch ist es Roark, der zu Dominique Francon aufsehen muss. Nun ist sie es, die mit dem Aufzug sehnsüchtig und bewundernd zu Roark emporfährt. Die Kamerabewegung am Ende von THE FOUNTAINHEAD ist ein Gegenentwurf zur Anfangseinstellung in THE CROWD. Hier ist sie aber nicht mehr ambivalent. Sie unterstreicht nur noch den seelischen und sozialen Aufstieg der Hauptfigur.

Der pessimistische Realismus von THE CROWD ist in THE FOUNTAINHEAD einem hysterischen Expressionismus gewichen. Dieser Unterschied wird bereits durch die Titel deutlich, die markieren, wer jeweils der Sieger bleiben wird. Der Drang nach Ausdruck und Selbstverwirklichung spiegelt sich auch in der Inszenierung wieder. Die dramatischen Szenen im Steinbruch und auf dem Wynand Building wirken überbetont, als wolle Vidor krampfhaft den Stolz und die Unbeirrbarkeit seiner Hauptfigur unterstreichen oder aber das Hysterische der Figuren spürbar machen. Wie John Sims entsagt auch Roark aller Lebensklugheit. In THE FOUNTAINHEAD wird die Notwendigkeit, sich der Masse anzupassen, aber nicht als Realitätsprinzip gezeigt, sondern als verführerische Bequemlichkeit, als Falle, welcher der Künstler im Gegensatz zum »Normalbürger« aus dem Weg gehen muss, um erfolgreich zu sein. In beiden Filmen wird dies in Motiven des Urbanen verarbeitet, durch die Dynamik vom Untergehen und Herausragen aus der Masse, Geborgenheit und Einsamkeit, Entwicklung und Stagnation, Sieg und Niederlage. Das Majestätische der Stadt, die von in den Himmel ragenden Gebäuden dominiert wird, der unübersichtliche Strom von Menschen auf den Straßen, in dem es von Konkurrenten wimmelt: All dies schien John Sims noch zu erdrücken, weil es ihm die eigene Sterblichkeit vor Augen führte. Der Künstler Roark hingegen gestaltet selbst den Lebensraum Stadt und macht sich durch seine Gebäude unsterblich. Es würde sich lohnen, dieses Motiv autobiographisch zu untersuchen, im Hinblick auf die Zwänge und Erfolge in King Vidors Hollywood-Karriere.


Abbildungen

Titelbild + Abb. 1
Filmstills aus:
The Crowd (USA 1928)

Abb. 2
Filmstills aus:
The Fountainhead (USA1949)