In seinem Aufsatz Alfred Hitchcock oder Die Form und ihre geschichtliche Vermittlung teilt Slavoj Žižek die Arbeit des Regisseurs in Anlehnung an Fredric Jameson in verschiedene Schaffensperioden ein: Die britischen Thriller zwischen THE 39 STEPS (GB 1935) und THE LADY VANISHES (GB 1938) identifiziert Žižek als realistische, die amerikanischen Filme von REBECCA (USA 1940) bis UNDER CAPRICORN (USA 1949) als modernistische und die großen Meisterwerke der fünfziger und sechziger Jahre, von STRANGERS ON A TRAIN (USA 1951) bis THE BIRDS (USA 1963), als postmoderne Periode. Ab MARNIE (USA 1964) beginnt dann ein Verfallsprozess, in dem das Hitchcock-Universum »in seine partikularen Bestandteile auseinanderbricht« (2002: 15 ff.). Die jeweiligen Phasen zeichnen sich laut Žižek durch unterschiedliche Themenschwerpunkte aus: Zunächst dominiert die Initiationsreise des Paares (Realismus), dann erzählt Hitchcock von Frauen, die durch ambivalente Vaterfiguren traumatisiert sind (Modernismus), und schließlich rücken männliche Helden in den Vordergrund, die durch das mütterliche Über-Ich unfähig zu einer angemessenen sexuellen Beziehung sind (Postmodernismus) (ebd.). Diese Periodisierung verbindet Žižek dann mit verschiedenen Stadien des Kapitalismus, vom Keynesianismus bis zur Konsumgesellschaft (ebd.: 17 f.).
Es lohnt sich, Žižeks marxistische Einordnung mit einer psychoanalytischen Interpretation zu ergänzen, denn dadurch schärft sich der Blick auf die Entwicklung der Geschlechterverhältnisse in Hitchcocks Gesamtwerk sowie auf autobiografische Aspekte, die damit verbunden sind. Dazu muss die Dreiergruppe aus PSYCHO (USA 1960), THE BIRDS und MARNIE untersucht werden, die in Žižeks Phasenmodell das Spätwerk bildet. In Anlehnung an Donald Spoto hat Bodo Fründt bereits auf Parallelen zwischen diesen Filmen hingewiesen:
Der Name Marnie ist zusammengesetzt aus den Namen Mar(ion) – Psycho – und Mela(nie) – The Birds. […] Der Film rekapituliert und erweitert Bilder, die Hitchcock schon zuvor gemalt hat. Simpel gesagt, spiegelt sich in Marnie Hitchcocks generelle Entwicklung vom romantischen Thriller über doppeldeutige, destruktive Liebesgeschichten zu düsteren Weltvisionen (1992, 232).
Folgen wir Žižek und Fründt, dann runden diese späten Meisterwerke Hitchcocks Schaffen ab: Zentrale Themen früherer Filme treten nun unverstellter zutage und werden zu einem kompromisslosen Blick verbunden. Es scheint, als zeige sich das Hitchcock-Universum nun in seinem rauen Kern, ohne den eleganten Zuckerguss, der Filme wie TO CATCH A THIEF (USA 1955) noch ausgezeichnet hat. Und aus der zarten Melancholie, die wir in THE TROUBLE WITH HARRY (USA 1955) gesehen haben, wird fortan Bitterkeit. Setzen wir PSYCHO, THE BIRDS und MARNIE nebeneinander, finden wir uns in einem Spiegelkabinett wieder, wo einzelne Motive in verschiedenen Facetten und Ausformungen erscheinen. Es sind drei Themen, die Hitchcock hier zusammenführt und variiert: Die dominante Mutter, die selbstzerstörerische Frau und den gewalttätigen Mann.
Mütter
In MARNIE setzt Hitchcock das Anfangsmotiv, den Red Herring, aus PSYCHO fort. Das ist einerseits die Geschichte einer Frau, die Geld stiehlt und deswegen auf der Flucht ist. Beide Male führt dieser Weg in eine Falle, in die Gewalt eines Mannes. In PSYCHO ist es ein Psychotiker, in MARNIE ein Neurotiker. Wie Norman ist auch Marnie durch die unaufgelöste Bindung an ihre Mutter zu einem »Psycho« geworden. Folgerichtig taucht die Mutter als «böser Schatten» der Vergangenheit, unter dem in PSYCHO sowohl Marion als auch Norman litten, hier erneut auf. »Marnie is in danger of becoming her mother – in all essentials – as Norman became Mrs. Bates«, erläutert Robin Wood (1991, 185). Und er beschreibt, wie sehr sich die Mutterfiguren beider Filme ähneln: Der Angriff von Mrs. Edgar auf Mark Rutland erinnert an die Duschszene und ihr Bild im Sessel an die tote Mrs. Bates im Schaukelstuhl (ebd.). In THE BIRDS ist die Konstellation komplexer. Melanie leidet darunter, dass ihr Vater sie verlassen hat. Die unaufgelöste Bindung an die Mutter ist hier auf die Nebenfigur verschoben. Zwar hat Melanie in ihrer Liebe zu Mitch direkt zwei Rivalinnen – seine Mutter und eine ehemalige Geliebte – doch wie Robin Wood erläutert, verbindet Hitchcock Melanie und Mrs. Brenner durch das Erscheinungsbild beider Frauen: »[A]lmost, we feel, we are seeing Melanie as she will look in 39 years‘ time« (ebd.: 159). Die Konflikte sind hier abgeschwächt und werden von den Figuren offen angesprochen. Doch Wut und Zerstörung sind dadurch nicht aufgelöst. Sie werden nun durch den Angriff der Vögel nach außen verlagert.
Die gefährliche Bindung zwischen Mutter und Kind kennen wir bereits aus NOTORIOUS (USA 1946), wo die Silhouetten von Anna und Alexander Sebastian zu einer mörderischen Einheit verschmelzen. Hier ist Sexualität zwischen dem Paar allerdings noch möglich, auch wenn sie neurotisch geprägt ist. Bodo Fründt hat in seiner Besprechung von NOTORIOUS darauf hingewiesen, dass uns Hitchcock in einer merkwürdigen Dreiereinstellung sowohl Alicia, ihren Ehemann als auch dessen Mutter gemeinsam auf dem Kopfkissen zeigt (1992: 132). Mit einem einzigen Bild verleiht er so der Vorstellung Leopold Szondis Ausdruck, dass die Ahnen eines Paares immer mit im Bett liegen. Der Mordanschlag aus mütterlicher Eifersucht geschieht hier noch heimtückisch, durch Gift. In PSYCHO bricht sich die ungeheure Wut dann offen Bahn, und aus dem Giftmord wird die phallische Messerattacke. Mit anderen Worten: Die Abgründe, die in NOTORIOUS und anderen Filmen unter der eleganten Oberfläche brodeln und oft nur spürbar sind, treten ab PSYCHO mit explosiver Kraft an die Oberfläche. Die Aggression verlagert sich nun von einem weiblichen zu einem männlichen Modus, denn »Männer töten durch das Schwert, Frauen durch Gift; unbefriedigte Männer sind gewalttätig, unbefriedigte Frauen giftig«, wie der Psychoanalytiker Jürgen Vogt schreibt (2011: 28). Ab PSYCHO wird Hitchcock also selbst zu einem Norman Bates, indem er die mütterliche Figur mit männlicher Aggression ausstattet.
Männer
Woher kommt diese unbändige Wut? Hitchcock gibt uns einen Hinweis darauf: In MARNIE setzt er nicht nur die Geschichten von Marion und Mrs. Bates fort, sondern auch die des Geschäftsmanns Cassidy. Durch den Cameoauftritt in PSYCHO unterstreicht der Regisseur seine Verbindung mit dieser Figur. Slavoj Žižek beschreibt Cassidy als Stellvertreter für Hitchcock, »der von ihm in den Film geschickt wird« (2002: 200). Wenn Marion im Auto aus Phoenix flieht, hören wir ihren Gedankenstrom auf der Tonspur: Cassidy erregt sich darüber, dass Marion ihm schöne Augen gemacht hat, und droht damit, das gestohlene Geld durch ihr »fine, soft flesh« zu ersetzen. Bei diesem Gedanken grinst Marion verächtlich. Einen ähnlichen Gesichtsausdruck hat Melanie, wenn sie mit den beiden Liebesvögeln auf dem Weg nach Bodega Bay ist. Robin Wood beschreibt sie als »aloof« (1991: 158). Doch diesmal ist die Atmosphäre spielerischer. Statt einer angstbeladenen Nachtstimmung zeigt uns Hitchcock nun eine sonnendurchflutete Küstenlandschaft. Robin Wood erläutert die dramaturgische Wirkung, die mit dem jeweiligen Setting einhergeht. In PSYCHO forciert Hitchcock unsere Identifikation mit Marion, indem er uns lediglich zwei Einstellungen gewährt: Eine Nahaufnahme Marions, untermalt von ihrem Gedankenstrom, und eine Subjektive auf die Windschutzscheibe und die Straße. Wir »trinken Fahrt und Nacht«, um mit Gottfried Benn zu sprechen (1999: 268). In THE BIRDS hingegen ergänzt Hitchcock Nahaufnahme und Subjektive durch mehrere Panorama Shots der Umgebung, die uns räumlich und somit auch seelisch von Melanie distanzieren. Die Offenheit im Raum lässt eine offenere Haltung zur Figur entstehen, wie Wood schreibt (1991: 155 f.).
In PSYCHO geht es um Betrug und Flucht, in THE BIRDS um Annäherung durch das Spiel der Verführung. Dennoch werden beide Frauen mit dem Tod konfrontiert. Sofort nach Marions Grinsen über Cassidy beginnt es zu regnen, und die einsetzenden Scheibenwischer künden bereits von den Messerhieben des Mörders. In der nächsten Einstellung taucht dann die Leuchtreklame des Bates Motel aus der Dunkelheit auf. Auch Norman begehrt Marion. Er setzt die Gewalttat um, die Cassidy in den Gedanken Marions nur ausspricht. Ist Cassidy Hitchcocks Alter Ego, dann stellt Norman seine dunkle Seite dar: Im Gegensatz zum männlich auftretenden Cassidy erscheint er schüchtern und unsicher, masturbiert lieber als zu flirten, wird dann aber zum »Lustmörder«. Den dramaturgischen Wendepunkt des Films, bei dem die Kamera zunächst auf den Abfluss der Dusche zufährt, um sich dann aus Marions totem Auge hinauszubewegen, versteht Slavoj Žižek als Wechsel von einem neurotischen zu einem psychotischen Blickwinkel (2002: 210). Als Repräsentanten der jeweiligen Modalität nennt er Marion und Norman, »ein Umstand«, schlussfolgert Žižek, »der bereits durch die Spiegelbeziehung ihrer Namen angezeigt wird« (ebd.: 209). Norman ersetzt Marion fortan als Hauptfigur. Und damit wird der Zuschauer in eine psychotische Wahrnehmung gezwungen: Er identifiziert sich mit einem Mörder, der sich mit seiner Mutter identifiziert. Ziehen wir eine Verbindungslinie von Hitchcock über Cassidy zu Norman, dann ist Marion jedoch nicht die Repräsentantin des neurotischen Blicks, sondern sein Objekt. Sie nimmt nicht den ersten Teil der Erzählung ein, sondern rückt im wahrsten Sinn des Wortes in ihren Mittelpunkt: Hitchcock tritt durch sein Alter Ego Cassidy in den diegetischen Raum ein. Er begehrt Marion, wird aber von ihr zurückgewiesen und bestohlen. Daraufhin entwickelt er Gewaltfantasien. Norman Bates als psychotische Kehrseite Cassidys setzt diese Fantasien in die Tat um.
Es gibt in PSYCHO eine weitere Männerfigur, die für das Verstehen des Films wichtig ist. Gleich zu Beginn etabliert Hitchcock die neurotische Bindung zwischen Sam und Marion. Beide wissen, dass ihre Partnerschaft keine Zukunft hat, sie wollen sie aber nicht beenden. Dies wird noch durch Bernard Herrmanns musikalischen Cue unterstrichen. Als Marion und Sam die Ausweglosigkeit ihrer Situation ansprechen, hören wir zunächst ein melancholisches Motiv. Wenn sich das Paar dann in Ungewissheit verabschiedet, bleibt die Musik statisch und verzichtet auf eine Auflösung. In einem so verzweifelten wie sinnlosen Versuch, die Bindung an Sam zu bewahren, stiehlt Marion Geld. In Gedanken kann sie ihre Handlung aber nicht vollenden. Als Marion ihre Flucht antritt, hören wir aus dem Off nur Sams Fragen, auf die sie keine Antwort findet. Nach Marions Tod sehen wir zwei Schlüsselszenen, in denen Sam mit Norman konfrontiert wird. Im Büro des Motels zeigt uns Hitchcock eine Zweiereinstellung, in der sich Sam und Norman gegenüberstehen. Robin Wood schreibt dazu:
As they face each other across the counter of Norman’s office, we have have the uncanny feeling that we are looking at two sides of the same coin; and the scene in question [… ] becomes one of the most moving of the film. The two men look at each other, and we look at them, and we realize suddenly that they are interchangeable: each seems the reflection of the other (though a reflection in a distorting mirror), the one healthy, balanced, the other gnawed and rotted within by poisened sex (1991: 147).
Wenig später, wenn Norman in den Kleidern seiner Mutter auf Lila zustürmt, taucht Sam im letzten Moment plötzlich hinter ihm auf und zwingt ihn zu Boden. Die beiden Männer scheinen in ihrem Kampf miteinander zu verschmelzen. Wir können auch sagen: In Fortführung der vorangegangenen Szene ringen hier zwei Anteile einer Person darum, die Oberhand zu gewinnen. Der Modalitätswechsel von der Neurose zur Psychose, den Žižek in der Badezimmerszene verortet, findet auf der visuellen Ebene also schon früher statt: Marion flieht aus dem sonnenhellen Phoenix, um eine neurotische Bindung fortzusetzen. Die Reise führt sie in die Nacht, oder anders ausgedrückt, in die Umnachtung eines psychotischen Mörders, der die Kehrseite ihres Partners repräsentiert. Diese Deutung erklärt auch eine geheimnisvolle Dopplung in PSYCHO. Marions Grinsen, wenn sie sich Cassidys Wut vorstellt, wird am Ende von Norman erwidert. Ist es ein triumphales Grinsen darüber, dass sich das Lustobjekt der Begierde letztlich doch nicht entziehen konnte? Dies lässt uns an Goethes berühmten Vers über Missbrauch denken: »Und bist du nicht willig, so brauch‘ ich Gewalt« (1987: 108).
In MARNIE greift Hitchcock die Motive des Betruges und der sexuellen Gewalt erneut auf. Marnie ist – wie Marion – eine Diebin. Mark versucht zunächst, sie zu verführen. Als ihm dies nicht gelingt, wird er zum Vergewaltiger. Und wie Norman begeht Mark die Gewalttat, nachdem sie ein Anderer in der Phantasie vorweggenommen hat. Denn mit dem Geschäftsmann Strutt taucht in Marnie auch die Figur Cassidys wieder auf. Strutt stellt Marnie ein, weil er von ihren weiblichen Reizen angezogen wird. Das sorgt zumindest bei den Polizisten für Heiterkeit, die durch Strutts detaillierte Personenbeschreibung die wahren Motive seiner »Erregung« erkennen. Kurz bevor Mark selbst zur Gewalt greift, warnt er Marnie vor ihrem Spiel mit dem Feuer:
Du wärst irgendeinem Sexualerpresser in die Hände gefallen. […] Früher oder später wärst du ins Gefängnis gekommen oder wärst in irgendeinem Büro von einem widerlichen alten Bock von Geschäftsmann in die Enge getrieben worden, und er hätte dich eben mit Gewalt genommen.
Diese Charakterisierung wirkt wie eine Selbstbeschreibung des Regisseurs. Donald Spoto hat Hitchcocks verzweifelte Vernarrtheit in seine Hauptdarstellerin ausführlich beschrieben. »Der Film«, schlussfolgert er »wurde zu der Geschichte eines Regisseurs, der eine unzugängliche Schauspielerin begehrt, die gerade deshalb umso mehr ein Objekt seiner Fantasie wird« (1993: 554). Hinzu kommt noch Hitchcocks Obsession, »jeden Film mit einer mörderischen Vergewaltigungsszene anfangen zu lassen« (Lehmann zit. n. ebd.: 637). Versuchen wir eine biografische Interpretation, dann erscheinen Cassidy und Strutt als Hitchcocks Realbilder, Mark Rutland als sein Idealbild und Norman Bates als die psychotische Kehrseite der Drehbühne.
Frauen
Die Inszenierung des letzten und folgenschwersten Angriffs der Vögel auf Melanie erscheint wie eine Variation der Duschszene. Doch diesmal ist es kein Mord, sondern ein Suizidversuch. Denn obwohl Melanie ahnt, was sie im oberen Stockwerk erwartet, steigt sie wie in Trance die Stufen empor. Robin Wood deutet dies als inneren Konflikt Melanies, die zwischen ihrer lebenszugewandten Seite und einem »desire for annihilation« schwankt (1991: 171). Der Versuch der Selbstzerstörung endet in einem Trauma. Auch Marnie versucht, sich umzubringen, nachdem Mark sie vergewaltigt hat. Aus ihren Worten wird aber deutlich, dass der Sprung in den Pool eher ein Hilferuf ist als ein Versuch der Selbstauslöschung.
Nach der Vergewaltigung durch Mark gibt es einen merkwürdigen Bruch in der Handlung. Diese Tat scheint die Figuren nicht zu beschädigen. Wir sehen, wie das Ehepaar aus den Flitterwochen zurückkehrt und die Familie begrüßt, als sei nichts geschehen. Woher kommt dieser Widerspruch? Ist es ein Inszenierungsfehler Hitchcocks? Wenn ein Regisseur eine Szene dreht, muss er ihre Stimmung immer in den Kontext der gesamten Handlung setzen: An welcher Stelle im Film befinde ich mich gerade, und was verlangt dies für das Spiel der Darsteller? Bei Hitchcocks akribischer Vorbereitung ist ein solcher Fehler kaum denkbar, obwohl Donald Spoto darauf hinweist, dass Hitchcock den Film wegen seiner Frustration über Tippi Hedren zu einem Misserfolg habe machen wollen (1993: 559). Die zweite Möglichkeit, diese Szene zu deuten, ist ein problematischer Blickwinkel des Regisseurs. Wenn er Marks Gewalttat durch ausbleibende Reaktionen abschwächt, müssen wir Hitchcock ein unangemessenes Männer- und Frauenbild unterstellen. Die dritte Option liegt nicht auf der handwerklichen und biografischen Ebene, sondern folgt der psychologischen Dimension der Geschichte. Aus psychoanalytischer Perspektive kann man die Frage stellen, ob Marnie die Reinszenierung ihres Traumas provozieren will. Denn die Gefahr, in die sie sich begibt, droht, ihr negatives Männerbild zu bestätigen. Wenn Mark und Marnie die Vergewaltigung verdrängen, sagt das sehr viel über den neurotischen Charakter ihrer Beziehung aus. Auch Marnie hat – wie Marion und Melanie – selbstzerstörerische Züge. Da sie sich in ihrem Anspruch nach Liebe zu kurz gekommen fühlt, führt sie ein Leben als Diebin und Betrügerin, um die Zuneigung ihrer Mutter durch teure Geschenke zu erkaufen. Hier fühlen wir uns an Marion erinnert, die ihr Glück ebenfalls durch Geld erzwingen will. Die Szenen zwischen Marnie und ihrer Mutter wirken wie die Vorgeschichte zu PSYCHO. Norman und Marnie sind nicht in der Lage, die erdrückende Bindung an die Mutter durch einen Partner zu ersetzen. Denn beide haben den Hass ihrer Mütter auf das rivalisierende Geschlecht übernommen. In einer Atmosphäre sexueller Unterdrückung und Versagung droht Marnie, in den seelischen Abgrund zu stürzen, der Norman bereits verschluckt hat.
Es gibt aber auch einen entscheidenden Unterschied: Wenn wir durch Marnies Traum das erste Mal mit ihrem Trauma konfrontiert werden, steht die Mutter als bedrohlicher Schattenriss an ihrem Bett. Dies ist eine der deutlichsten Reminiszenzen an PSYCHO, doch diesmal ist der Dialog mit der Mutter nicht verdrängend, sondern aufdeckend: »Es ist wieder dieser alte Traum gewesen«, äußert Marnie; »es ist immer so, wenn du in der Tür stehst. Dann wird es so kalt«. Unklar bleibt, ob dieses Gespräch real ist oder nur in Marnies Kopf stattfindet. In der Psychose holen akustische und visuelle Halluzinationen Dinge in den Vordergrund, die zu lange nicht gehört beziehungsweise gesehen werden wollten. Das Verdrängte drängt sich dadurch in das Bewusstsein. Das gilt auch für die Angstzustände, die bei Marnie in bestimmten Situationen durch die Farbe Rot ausgelöst werden. Etwas Ähnliches sehen wir in SPELLBOUND (USA 1945), wenn John Ballantyne durch die Farbe Weiß in psychotische Episoden gerät.
Das Seelische frisst und produziert unentwegt Bilder. Wie Friedhelm Bellingroth schreibt, sind sie »die ureigenste Erlebnis- und Ausdrucksform der menschlichen Tiefenseele« (1958: 113). Wir können die Szene in Marnies Kinderzimmer deshalb auch als Metaelement deuten. Hitchcock führt uns vor, wie seine Filmbilder aus frühen Eindrücken entstehen. In sehr lyrischer und bewegender Weise zeigt uns Sam Mendes dies in AMERICAN BEAUTY (USA 1999), wenn Lester Burnham am Saum des Todes die zentralen Bilder seines Lebens durch den Kopf schießen. Was uns dort zu Tränen rührt, lässt uns in Hitchcocks Spätwerk jedoch erzittern. Die einen Bilder wirken in ihrer Lebensbejahung befreiend, die Anderen drücken obsessive Ängste und Aggressionen aus.
Paare
Das scheinbare Happy End in MARNIE ist ein Pyrrhussieg. Während der Psychiater in PSYCHO erst nach der Katastrophe die Ursachen rekonstruieren kann, gelingt es Marnie durch Marks Unterstützung, ihrem Trauma selbst auf die Spur zu kommen. Das ist ein versöhnlicherer Ausgang, doch er bleibt zwiespältig. Denn am Ende des Films ersetzt Marnie die erdrückende Bindung an ihre Mutter durch die neurotische Partnerschaft mit Mark. Mit anderen Worten: Aus dem verzweifelten Versuch, die Dualunion mit der Mutter wiederherzustellen, wir nun der Drang zur Verschmelzung mit einem anderen Objekt.
Ralf Zwiebel hat herausgearbeitet, dass Hitchcocks Bilderwelten von Abgründen und Fallen durchzogen sind. Diese deutet er als Abbild für ein seelisches Dilemma: Der gleichzeitigen Angst vor Verlassenheit, aber auch vor Vereinnahmung (2007: 70). Dies erklärt Hitchcocks Blick auf die Paarbindung. Das Ideal von Freiheit in der Gebundenheit (Wirtz 2011: 30) wird in nahezu allen Filmen hintertrieben: In THE 39 STEPS und SABOTEUR (USA 1942) sehen wir Bilder äußerer Fesselung, BLACKMAIL (GB 1929), SABOTAGE (GB 1936), REBECCA und SHADOW OF A DOUBT (USA 1943) enden mit Paaren, die durch schuldhafte Verstrickung, durch ein geheimes Wissen aneinandergekettet sind. In UNDER CAPRICORN zeigt uns Hitchcock das Nachspiel und portraitiert eine Ehe, die dadurch zerrüttet wurde. Wie in NOTORIOUS geht die Frau zugrunde, während sich der Mann in Eifersucht selbst zerfleischt. Nur durch die Triangulation, durch die Erregung eines anderen Mannes, kann die Bindung gerettet werden. Bezeichnender Weise greift Sacha Gervasi in seinem Biopic HITCHCOCK mehr als 60 Jahre später genau dieses Motiv auf.
Wenn es um die Angst vor dem Freiheitsverlust geht, gibt es einen entscheidenden Unterschied zwischen der männlichen und der weiblichen Perspektive, wie der Psychoanalytiker Rolf-Arno Wirtz schreibt: »Männer haben Angst, ihre äußere Freiheit zu verlieren, Frauen Angst, ihre innere Freiheit aufgeben zu müssen« Dies führt zu einer grundsätzlich anderen Haltung: »Kein Mann soll wegen seiner Phallizität etwas von mir fordern dürfen (Frauen), und keine Frau darf mir überlegen sein (Männer)« (ebd.). In Hitchcocks frühen Filmen ist der Geschlechterkampf noch spielerisch und wird von ironischen Kommentaren begleitet. Wenn Pat und Barry (Priscilla Lane und Robert Cummings) in SABOTEUR miteinander ringen, äußert eine Beobachterin: »My, they must be terribly in love«. In TO CATCH A THIEF und REAR WINDOW (USA 1954) wird die Auseinandersetzung zwischen Mann und Frau prägnanter. In beiden Filmen versuchen die männlichen Figuren, sich den Bindungsversuchen ihrer Partnerinnen (in beiden Fällen Grace Kelly) zu widersetzen. L. B. Jefferies (James Stewart) will lieber Hemingway statt Fitzgerald sein und den Tropenanzug nicht gegen grauen Flanell tauschen. Doch am Ende hat er nicht nur eines, sondern beide Beine im Gipskorsett. Der Meisterdieb John Roby (Cary Grant) wird schließlich von der »Katze« zum Haustiger. Die Domestizierung ist gelungen. Um mit dem Psychoanaytiker Leopold Szondi zu sprechen: Die männlichen und die weiblichen Machtformen werden in diesen Filmen miteinander konfrontiert, wobei die Seinsmacht der Frauen über die Habmacht der Männer triumphiert (vgl. Zenklusen Müller 1997: 13-15).
In VERTIGO (USA 1958) wird dieses Machtgefüge auf den Kopf gestellt und mit düstereren Tönen kombiniert. Nun zeigt uns Hitchcock einen Gegenentwurf zum Film Noir: Den Mann, der die femme fatale in eine tote Puppe verwandeln will. Und mit der Erzählung des Buchhändlers über Carlotta entsteht diesmal ein problematischeres Bild von Freiheit: Der mächtige Patrizier, der sein Liebesobjekt »zähmt« und nach »Belieben« verstößt. In MARNIE wird Hitchcock dies wieder aufgreifen. In THE TROUBLE WITH HARRY hingegen zeigt uns Hitchcock Bilder zaghafter Annäherung, und am Anfang von NOTORIOUS und TORN CURTAIN (USA 1966) lässt er uns so sehr mit der Intimsphäre der Paare verschmelzen, dass es fast die Intensität des Koitus erreicht. »Der Koitus ist von der Bisexualität geprägt: Das heißt, von der Identifizierung mit dem anderen Genital«, schreibt Rolf-Arno Wirtz (ebd.: 33). An dieser Stelle wird auch der Unterschied zwischen Liebesszenen und Pornographie deutlich. »Pornographie entspringt männlichen homosexuellen Vorstellungen über Frauen« (Vogt 2011: 27). Dabei treiben es die Männer mit sich selbst. In seinem Gespräch mit Truffaut äußert Hitchcock, die Liebesszene in NOTORIOUS sei eine »vorübergehende ménage à trois für den Zuschauer« (1992: 255). Für einen kurzen Moment genügt das Paar sich selbst, die Sorgen und Nöte der Außenwelt spielen keine Rolle mehr. Hier intensiviert Hitchcock die frühen Bilder aus THE 39 STEPS und SABOTEUR, wo die Abenteuerreise das Paar innerlich und äußerlich aneinanderbindet, und gibt ihnen eine positive Wendung. Seine Hoffnung auf eine produktive Bindung flackert immer wieder auf und scheint bis zum Ende nicht völlig erloschen zu sein.
Erzählstrukturen
PSYCHO, THE BIRDS und MARNIE bilden ein Triptychon über Hitchcocks Blick auf Männer und Frauen. Diese Filme sind eine konsequente Weiterentwicklung seines Universums. Die treibende Kraft und die Verbindungslinien in Hitchcocks Spätwerk werden noch deutlicher, wenn wir aus der Nahaufnahme in die Vogelperspektive wechseln und den Blick von den Themen auf die Erzählstrukturen richten.
PSYCHO ist nicht nur ein Horrorfilm, sondern Hitchcock perfektioniert hier seine Ideologiekritik. Schon in früheren Filmen konfrontiert er uns mit unserem voreingenommenen Sehen: Immer wieder provoziert er uns dazu, Figuren für schuldig oder gefährlich zu halten, um unsere Einstellung dann ad absurdum zu führen. Dies sehen wir zum Beispiel in SUSPICION, in SPELLBOUND und in NORH BY NORTHWEST. Mit Norman Bates treibt Hitchcock dies auf die Spitze. Wir verstehen die Genialität von PSYCHO nur, indem wir uns bewusstmachen, welche seelischen Mechanismen im Kinosaal wirken: Wenn das Licht ausgeht, versetzen wir uns in einen seelischen Urzustand zurück, der sowohl dem Egozentrismus des Kleinkindes als auch der Psychose entspricht. Für kurze Zeit ist die Trennung zwischen Innen- und Außenwelt, zwischen Vorstellung und Wahrnehmung wieder aufgehoben. Der Zuschauer taucht in die Filmhandlung ein. Er projiziert seine Gefühlswelt auf die Leinwandfiguren, und durch Introjektion wirken diese auf ihn zurück (vgl. Bellingroth 1958). In PSYCHO zieht uns Hitchcock den sicheren Boden unter den Füßen weg und gibt der Wirkung des Kinos eine gefährliche Rückbezüglichkeit. Er überträgt das Verhältnis zwischen Zuschauerraum und Leinwand in die Geschichte selbst: Norman ist nichts Anderes als ein Repräsentant für den Kinozuschauer. Im Akt des psychotischen Sehens identifizieren wir uns mit einem Psychotiker, der sich mit seiner Mutter identifiziert. Zunächst übersehen wir Normans problematische Anteile und sind dann umso betroffener, wenn uns die eigene Anlage zur Psychose vor Augen geführt wird. Plötzlich befinden wir uns in einem Bild von M. C. Escher, im Graubereich des Neckerschen Würfels, wo das Spiel von Abspaltung und Projektion aufgehoben ist. Deshalb steht Lila (Vera Miles) im Zimmer der Mutter zwischen einem Doppelspiegel. Es ist das zentrale Bild des Films. Ein noch radikalerer Angriff auf den Zuschauer ist kaum denkbar. Das Besondere ist, das Hitchcock dies nicht konstativ macht, sondern performativ: PSYCHO ist keine Geschichte über die Tücken der Wahrnehmung wie Akira Kurosawas RASHOMON (JP 1950). Der Film funktioniert nicht auf der kognitiven Ebene, sondern auf der Emotionalen. Hitchcock verwendet die Dramaturgie, um den Zuschauer diesen Mechanismus erleben zu lassen. PSYCHO ist ein Metafilm, eine Reflexion über das Kino, welche das Medium bis an den Rand der Dekonstruktion treibt. Es ist die zugleich filmischste und afilmischste Erzählung. Das meint Hitchcock, wenn er Truffaut gegenüber äußert, Psycho gehöre den Filmemachern (1992: 276). Es wäre spannend zu untersuchen, warum Filme wie Christopher Nolans MEMENTO (USA 2000), die eine vergleichbare Erzählstruktur aufweisen, uns nicht so stark ergreifen.
Durch Donald Spotos Hitchcock-Biografie wissen wir, dass sich der Regisseur die Frage stellte, wie er die immense Wirkung und den Erfolg von PSYCHO noch überbieten konnte (vgl. 1993, 522). Um seine düstere Weltsicht auszudrücken, wählte er mit THE BIRDS ein Projekt, das nach Genrekonventionen ebenfalls als Horrorfilm erscheint, bei genauerem Blick aber einen Gegenentwurf zu PSYCHO darstellt. Denn diesmal wirft Hitchcock die seelischen Konflikte nicht auf den Zuschauer zurück, sondern projiziert sie nach außen, auf die Vögel. Statt Ideologiekritik zu treiben, wählt Hitchcock nun die Form einer Parabel. Was die zwischenmenschlichen Konflikte angeht, ist THE BIRDS deshalb der ausgewogenste Film des Triptychons. Die Dominanz der Mutter, die Selbstzerstörung der Frau und die Gewalt der Männer sind abgedämpft und auf eine metaphorische Ebene verlagert. Den Figuren gelingt es zwar, ihre Spannungen zu verbalisieren, doch die Gewalt der Vögel offenbart uns, dass die unter der Oberfläche brodelnde Wut nur verdrängt ist. Damit werden sie ein Sinnbild für das, was Kleist als »gebrechliche Einrichtung der Welt« beschreibt (1993: 15). Für die Beziehung zwischen Zuschauer und Leinwandgeschehen ist das weitaus harmloser als PSYCHO, auf der diegetischen Ebene wiederum wirkt es kompromissloser. Denn diesmal gibt es keinen Psychiater, der den Horror rückwirkend deuten und so in die symbolische Ordnung integrieren kann. Deswegen versagt uns Hitchcock auch den Endtitel. Norman verschwindet in der Forensik, aber die Vögel bleiben drohend auf den Telegrafenmasten sitzen.
In MARNIE wirft Hitchcock die Karten schließlich offen auf den Tisch und präsentiert uns ein psychologisches Drama. Es sind die alten Konflikte, die hier verhandelt werden, aber am Horizont funkelt nun ein Hoffnungsschimmer: Die Heilung der Psychose ist möglich, wenn sich die Menschen ihre Probleme bewusstmachen. Das erinnert uns an die Einleitung von SPELLBOUND, wo Hitchcock der Handlung ein abgewandeltes Zitat aus Julius Ceasar voranstellt: »The fault […] is not in our stars, but in ourselves«. Auch MARNIE ist also ein Gegenentwurf zu PSYCHO und rundet das Triptychon mit einer positiven Botschaft ab. Nachdem uns Hitchcock die Anlage zur Psychose in uns allen gezeigt hat sowie Chaos und Gewalt, die aus der Verdrängung resultieren, untersucht er schließlich die Möglichkeiten, sich aus den Fesseln von Fehlwahrnehmung und Selbstzerstörung zu befreien.
Um diesen Ansatz zu verstehen, müssen wir noch einen weiteren Film hinzuziehen: Wie Bodo Fründt gezeigt hat, stellt TOPAZ (USA 1969) den Versuch dar, die zwischenmenschlichen Konflikte auf die Ebene von Staaten auszudehnen (1992: 244). Nach der Kubakrise, die die Menschheit an den Abgrund der globalen Vernichtung geführt hat, begibt sich Hitchcock von der Psychologie auf das Terrain der Soziologie. Dies erinnert an Leopold Szondis Vorwort zu Kain – Gestalten des Bösen aus demselben Jahr:
Der Historiker stellt fest, daß die Weltgeschichte nicht die Verwirklichung eines ständigen Fortschreitens vom Niedrigen zum Höheren, vom Schlechteren zum Besseren, von der Knechtschaft zur Freiheit ist. […] Die tötende Gesinnung Kains ist äußerst erfinderisch. Sie fand in der Weltgeschichte immerfort neue Ziele und neue Motive zum Töten. […] Er regiert den Einzelnen von der Wiege bis zum Grabe und die Welt von der Steinzeit bis ins Atomzeitalter und noch weiter in Zeiten, die folgen werden (1969: 7. Rechtschreibung im Original).
Ein derartiger Modalitätswechsel war aber letztlich unvereinbar mit dem Hitchcock-Universum und musste scheitern. An dieser Stelle schließt sich auch der Kreis zu Slavoj Žižek: Wir haben es bei den Filmen nach THE BIRDS nicht mit einer Verfallsperiode zu tun, sondern mit einem Versuch des Regisseurs, die ideologiekritische Entwicklung, die in PSYCHO gipfelt, weiter fortzusetzen. In dem unvollendeten Projekt KALEIDOSCOPE, das später in FRENZY (GB 1972) mündet, rückt noch einmal die dunkle Seite des Genies in den Vordergrund. In seinem letzten Film FAMILY PLOT (USA 1976) verabschiedet sich Hitchcock aber mit selbstironischen Kommentaren von seinem Publikum. Diesmal reißt er den aufmerksamen Zuschauer mit versteckten Seitenhieben aus der magischen Trance, dem Realitätseffekt des Films. Dazu gehören die blonde Perücke im Eisschrank, mit der Hitchcock seine Vorliebe für unterkühlte Blondinen auf die Schippe nimmt, und die rasante Talfahrt von Blanche und George (Barbara Harris und Bruce Dern), die dem Geschlechterkampf noch einmal eine erotisch-komödiantische Note abgewinnt und sie mit Thrillerelementen kombiniert. »Drive Safely« steht wie ein Lebens- und Überlebensmotto auf dem Nummernschild des Fahrzeuges, dessen Bremsen von einem Killer manipuliert wurden. Nachdem Blanche und George in haarsträubenden Manövern um die richtige Fahrweise gerungen haben, landen sie schließlich im Straßengraben. Was nun folgt, ist eine geradezu unverschämte Einstellung, die in den Storyboards nicht enthalten ist (vgl. Spoto 1992: 393-421). Sie scheint von Hitchcock improvisiert worden zu sein. Blanche steigt aus dem auf der Seite liegenden Auto, indem sie Georges Wange als Trittbrett benutzt. Er muss mit dem Kopf voran mühsam aus dem unteren Fenster herausgleiten und wird dabei noch von Blanches Handtasche gefesselt, die er plötzlich umhat. Bei einem zweiten Blick auf die obszöne Anordnung der Szene – den Fensterschlitz mit den davorliegenden Büschen – erkennen wir Hitchcocks wahre Absicht: Wir werden Zeugen einer Zwillingsgeburt. Nach der Düsternis des Spätwerks, in dem das Männliche und das Weibliche unvereinbar scheinen, sagt Hitchcock den Alleinstehenden und Paaren im Kinosaal mit einer Reminiszenz an seine frühe Schaffensphase versöhnlich Lebewohl.
Literatur
Bellingroth, Friedhelm (1958)
Triebwirkung des Films auf Jugendliche. Einführung in die analytische Filmpsychologie auf Grund experimenteller Analysen kollektiver Triebprozesse im Filmerleben. Bern: Huber
Benn, Gottfried (1999)
»Astern« [1936]. In: Bruno Hillebrand (Hg.), Gottfried Benn. Gedichte in der Fassung der Erstdrucke. Frankfurt a. M.: Fischer, 13. Aufl., S. 268
Fründt, Bodo (1992)
Alfred Hitchcock und seine Filme [1986]. München: Heyne, 4. Aufl.
Goethe, Johann Wolfgang (1987)
»Erlkönig« [1778]. In: Karl Eibl (Hg.), Johann Wolfgang Goethe. Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche, Bd. 2. Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker-Verlag, S. 107-108
Kleist, Heinrich von (1993)
Michael Kohlhaas [1810]. In: Helmut Sembdner (Hg.), Heinrich von Kleist. Sämtliche Erzählungen und Anekdoten. München: dtv, 12. Aufl., S. 9-103
Spoto, Donald (1993)
Alfred Hitchcock. Die dunkle Seite des Genies [1983]. München: Heyne
Szondi, Leopold (1996)
Kain. Gestalten des Bösen. Bern: Huber
Truffaut, François (1992)
Mr. Hitchcock, wie haben Sie das gemacht? [1966]. München: Heyne, 16. Aufl.
Vogt, Jürgen (2011)
»Was ist männlich, was ist weiblich?« In: Deutsche Gesellschaft für Sozialanalytische Forschung (Hg.), Das Leben passiert, während man sich andere Pläne macht. Zwischen Grundmangel und Neubeginn. Köln, S. 13-29
Wirtz, Rolf-Arno (2011)
»Anmerkungen zum Geschlechtsunterschied«. In: Deutsche Gesellschaft für Sozialanalytische Forschung (Hg.), Das Leben passiert, während man sich andere Pläne macht. Zwischen Grundmangel und Neubeginn. Köln, S. 30-34
Wood, Robin (1991)
Hitchcock’s Films Revisited [1989]. London: Faber and Faber
Zenklusen Müller, Monika (1997)
»Jenseits von Dur und Moll – Bemerkungen zu Szondis Theorie der Geschlechterverhältnisse«. In: Stiftung Szondi-Institut (Hg.), szondiana 2/97. Zürich, S. 6-29
Žižek, Slavoj (2002)
»Alfred Hitchcock oder Die Form und ihre geschichtliche Vermittlung«. In: Ders. u. a. (Hg.), Was Sie immer schon über Lacan wissen wollten und Hitchcock nie zu fragen wagten. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 11-23
Zwiebel, Ralf (2007)
»Zwischen Abgrund und Falle. Filmpsychoanalytische Anmerkungen zu Alfred Hitchcock«. In: Werner Bohleber (Hg.), PSYCHE. Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen. 61. Jhg. Stuttgart: Klett-Cotta, S. 65-73
Abbildungen
Titelbild
Filmstills aus:
Vertigo (USA 1958), Notorious (USA 1946)
Abb. 1
Filmstills aus:
Notorious (USA 1946), Psycho (USA 1960), Marnie (USA 1964)
Abb. 2
Filmstill aus:
Psycho
Abb. 3
Filmstills aus:
Psycho, Marnie
Abb. 4
Filmstills aus:
Psycho, The Birds (USA 1963), Marnie
Abb. 5
Filmstills aus:
Saboteur (USA 1942), The 39 Steps (GB 1935), Shadow of a Doubt (USA 1943), Under Capricorn (USA 1949)