Mit DIE AKTE GENERAL wurde 2016 der mittlerweile dritte Spielfilm über den hessischen Generalstaatsanwalt und den Auschwitzprozess von 1963 produziert. Ohne Zweifel haben diese Filme als Verdienst, die Arbeit Fritz Bauers nach einem halben Jahrhundert in Erinnerung zu rufen, denn dem Großteil des Publikums wird sie vorher nicht bekannt gewesen sein. Doch was verraten sie uns über die heutige Auseinandersetzung mit der Nazidiktatur und über die Ursachen der kollektiven Verdrängung in der frühen Bundesrepublik?
IM LABYRINTH DES SCHWEIGENS (2014), DER STAAT GEGEN FRITZ BAUER (2015) sowie DIE AKTE GENERAL (2016) bilden ein filmisches Triptychon. In einem Genremix aus Drama, Politthriller und Biopic, das jeweils unterschiedlich gewichtet ist, versuchen sie allesamt, Fritz Bauers Arbeit und die Vorgeschichte des ersten Frankfurter Auschwitzprozesses zu beleuchten. Doch das Ergebnis könnte unterschiedlicher nicht sein. Dort, wo die sich die Filmemacher anstrengen, der Person Fritz Bauer besonders nahe zu kommen, schadet dies paradoxer Weise der historischen Genauigkeit. Dies hat zu einem großen Teil mit den Regeln der Dramaturgie zu tun. Denn im Spielfilm entsteht Wahrhaftigkeit nicht durch das Tatsachenhafte. In der fiktionalen Adaption geht es nicht um den realen Fritz Bauer und den Auschwitzprozess, wie er sich tatsächlich zugetragen hat, sondern um etwas, das exemplarisch an diesem Menschen und den Ereignissen deutlich wird.
Diesem Ansatz folgt Nicolas Berg in seinem Essay SELBSTANSPRACHEN DER GEGENWART. Er führt aus, dass die Spielfilme uns nicht nur etwas über Fritz Bauer, sondern auch über uns selbst verraten, indem sie dazu beitragen, »über heutige Interessen, Ängste und Hoffnungen, die hier in die Vergangenheit der 1950er und 1960er Jahre projiziert werden, […] einen Prozess der Reflexion über das kulturelle und historische Selbstbild des heutigen Deutschlands zu visualisieren« (Berg 2016: 43). Drei aufeinander folgende Filme zeugen ohne Zweifel von einer besonderen Neugier auf den Themenkomplex Bauer und Auschwitz. Deswegen ist es bei der filmischen Interpretation umso wichtiger zu analysieren, welche Aspekte angesprochen werden, und welche ausgeklammert bleiben. Statt die Spielfilme als »verfilmtes Geschichtsbuch« zu betrachten, ist es viel spannender, aus dem Blick in die Vergangenheit Rückschlüsse auf die Gegenwart zu schließen, wie Nicolas Berg nahelegt. Im Folgenden wird deshalb untersucht, durch welche seelischen und gesellschaftlichen Konflikte die Filme ihr Thema behandeln, und was uns dies über die heutige Auseinandersetzung mit der Nazizeit offenbart.
IM LABYRINTH DES SCHWEIGENS
Der erste Film der Reihe erzählt von den institutionellen Widerständen, mit denen Johann Radmann, ein junger Staatsanwalt, bei der Identifikation und Verfolgung der Naziverbrecher konfrontiert wird. Die Auseinandersetzung mit dem Grauen von Auschwitz und die aggressive Verdrängungshaltung der Täter und Mitwisser bringen ihn aus dem seelischen Gleichgewicht. Als Radmann herausfindet, dass sein Vater NSDAP-Mitglied war und sein Mitstreiter Thomas Gnielka ein Flakhelfer in Auschwitz, bricht seine Welt zusammen. Er quittiert desillusioniert den Dienst. Aus dem Staatsanwalt wird ein paranoider »Ankläger«, der in jedem Menschen einen Mitwisser oder Kollaborateur sieht. Diesem Druck hält Radmann nicht Stand und geht für kurze Zeit den Weg des geringsten Widerstandes, indem er sich als Rechtsberater eines Industriellen anstellen lässt. Doch letztlich kann er es nicht mit seinem Gewissen vereinbaren, auf die Seite der schweigenden Mehrheit zu wechseln. Er entscheidet sich schließlich doch dafür, seine Ermittlungsarbeit fortzusetzen und mit der Unterstützung Fritz Bauers den ersten Auschwitzprozess einzuläuten. Statt die eigene Integrität zu opfern, ist Radmann am Ende »richtig« verrückt geworden, um mit dem Psychoanalytiker Jürgen Vogt zu sprechen.
IM LABYRINTH DES SCHWEIGENS ist der psychologisch vielschichtigste Film der Reihe. Hier ist niemand ohne Verantwortung: Der Staatsanwalt ist eine Projektionsfigur der jungen Generation, die mühsam herausfinden muss, was ihre Väter verbrochen haben, und welcher Abgrund sich hinter der piefigen Atmosphäre der jungen Republik verbirgt. Durch Thomas Gnielka, der vom Flakhelfer zum Nazijäger geworden ist, sowie einen fiktiven Auschwitzüberlebenden, dessen Töchter von Josef Mengele ermordet wurden, zeigt der Film weitere Facetten der Verdrängung: Sie kann vor allem für die Opfer heilsam sein, als Schutzmantel vor dem Verrücktwerden dienen. Sie kann aber auch zum Gift werden. Das ist, was Margarete und Alexander Mitscherlich in ihrem Buch Die Unfähigkeit zu trauern beschreiben: Die fehlende Aufarbeitung der Nazizeit blockiert die gesellschaftliche und auch die individuelle Entwicklung in der jungen Bundesrepublik. Denn auf diese Weise werden keine ausreichenden Abwehrmechanismen gegen die Denkmuster des Faschismus gebildet, sondern sie wirken hinter Verschleierungen, und ausgestattet mit neuen Feindbildern, weiter.
IM LABYRINTH DES SCHWEIGENS verdeutlicht den Generationenkonflikt, der damit einhergeht, durch die Dichotomie in gute und böse Väter, um eine Formulierung Annette Brauerhochs abzuwandeln (vgl. Brauerhoch 1996). Es gibt den Vater, der seine Kinder in die Hände Mengeles gab. Das wirft die Frage auf, wie man damit weiterleben kann, so missbraucht worden zu sein. Außerdem sehen wir den Vater, der seine Mordtaten im Alkohol ertränkt. Wie kann man damit leben, Mitläufer oder Täter gewesen zu sein? Und die Hauptfigur Radmann schwankt zwischen dem idealisierten Vater, der sich als Trugbild erweist, und seinem Mentor Bauer, der ihm deutlich macht, wie wichtig ein unverklärter Blick in die Vergangenheit ist. Bezeichnender Weise wird Radmann mit seinem leiblichen Vater nicht in einer gemeinsamen Einstellung gezeigt, sondern im Schuss-Gegenschuss-Verfahren. Wir können auch sagen: Er bringt das Bild des Vaters und sein Eigenes nicht zusammen. Noch dazu wird diese Begegnung nicht in Rückblenden, als Erinnerungsbild, gezeigt, sondern in der Form eines Albtraums. [1] Als Radmann von der NSDAP-Mitgliedschaft seines Vaters erfährt, rückt die Nazizeit in eine unbequeme Nähe. Was vorher ein gesellschaftliches Trauma war, wird nun zu einem Persönlichen. Der Sohn gerät dadurch in eine seelische Krise, die zunächst in Stagnation zu enden scheint, aber dann doch in eine Weiterentwicklung mündet. Anhand konkreter Konflikte veranschaulichen die verschiedenen Vatergeschichten, was Margarete und Alexander Mitscherlich in ihrem Buch beschreiben.
DER STAAT GEGEN FRITZ BAUER
Hier rückt der hessische Generalstaatsanwalt – zumindest durch den Titel – erstmals in den Mittelpunkt der Erzählung. Der Film schildert, wie Bauer mit der Unterstützung des Ministerpräsidenten Georg-August Zinn, eines jungen Staatsanwaltes sowie des Mossad Adolf Eichmann aufspürt, so dass ihm in Israel der Prozess gemacht werden kann. Bauer verliert jedoch seinen Mitstreiter, da dieser durch die Beziehung zu einem Transsexuellen erpressbar geworden ist. Von einem BND-Agenten in die Falle gelockt, zeigt sich der junge Staatsanwalt lieber selbst an, als Bauer wegen seiner Kooperation mit dem Mossad als Landesverräter zu denunzieren. Leider bleibt der Film somit ein simpler Thriller, für den die Auschwitzverbrechen, Fritz Bauers Arbeit und das politische Klima der frühen Bundesrepublik lediglich die Rahmenhandlung bilden.
IM LABYRINTH DES SCHWEIGENS handelt von der Auseinandersetzung mit persönlicher, familiärer und gesellschaftlicher Verantwortung sowie der damit verbundenen Schwierigkeit, über den industrialisierten Massenmord zu reden. Dies erinnert an einen Satz von Hannah Arendt: »Da ist irgendetwas passiert, womit wir alle nicht mehr fertig werden« (Ahrendt 1964: o. S.). DER STAAT GEGEN FRITZ BAUER stellt jedoch einen Konflikt in den Vordergrund, der uns nur wenig darüber verrät. Schlimmer noch: Die Antagonisten werden wie überzeichnete Comicfiguren inszeniert, allen voran Sebastian Blomberg und Lilith Stangenberg. Dadurch rücken sie in einen bequemen Abstand von uns, durch den eine Auseinandersetzung mit ihrer Innenwelt, mit den Denkmustern der Nazi-Ideologie und dem Verdrängungsmechanismus nicht mehr stattfindet. Diesen Reflex nutzt auch die Neue Rechte, wie der Psychoanalytiker Hermann-Josef Berk beschreibt:
»Vor einigen Jahren sagte ein prominenter Rechtsradikaler in einem Interview: ›Was haben wir mit diesem Österreicher zu tun?‹ […] Danach war mir klar, dass wir ziemliche Fehlvorstellungen über die Denkweisen des heutigen Rechtsradikalismus haben. Der die Hose vollgepisst habende Glatzkopf, der Hitler-Parolen brüllt, ist nur der Blickfang« (Berk 2007: 11).
DIE AKTE GENERAL
Der Fernsehfilm mutet zunächst wie ein Remake von DER STAAT GEGEN FRITZ BAUER an. Erneut wird geschildert, wie der Generalstaatsanwalt und ein junger Mitarbeiter mit der Protektion des hessischen Ministerpräsidenten Adolf Eichmann nachspüren und dabei von den staatlichen Institutionen blockiert werden. Doch diesmal ist der Repräsentant der Nachkriegsgeneration ein Verräter, der Bauer im Auftrag des BND bespitzelt. Durch die liebevolle Darstellung Ulrich Noethens und Frank Röths als Bauer beziehungsweise Zinn sind die Figuren hier weitaus plastischer und sympathischer als im Vorgängerfilm. Doch nicht nur bei der schauspielerischen Leistung, auch in der Spannungserzeugung ist die Fernsehproduktion dem Kinofilm in vielen Momenten überlegen, wenn man davon absieht, dass der Maulwurf in Bauers Stab reine Fiktion ist. In einem Aspekt vergaloppiert sich DIE AKTE GENERAL jedoch in dem Bemühen, einen Schritt weiter zu gehen als der Vorgängerfilm: Nun ist es Bauer, der eindeutig homosexuell und damit erpressbar ist. Das wirft die Frage auf, warum dieses Thema so wichtig für die Filmemacher ist. Geht es um den Paragraphen 175? Dann fehlt die ernsthafte Auseinandersetzung damit. Will man der historischen Figur Bauer möglichst nahekommen? Dann ist das eine biografische Ungenauigkeit, denn nach dem dänischen Exil ist eine Homosexualität Bauers nie belegt worden. Auch hier ist IM LABYRINTH DES SCHWEIGENS präziser, denn der Film benennt klar, worum es bei Bauers Favorisierung junger Mitarbeiter ging: Das hatte nichts mit Erotik zu tun; diese Männer waren schlicht und ergreifend unbelastet von der Nazidiktatur. Man kann die Betonung des Themas Homosexualität also auch als unbewusste Abwehr deuten gegen die unbequeme Tatsache, dass die Nazi-Ideologie von 90 Prozent der deutschen Bevölkerung getragen worden ist: Sprechen wir über Bauers Privatleben, müssen wir nicht über die Verantwortung der Väter und Großeltern reden. IM LABYRINTH DES SCHWEIGENS tut dies sehr ausführlich. Damit rückt der Film einen Konflikt in sein Zentrum, der uns alle angeht.
Weitaus spannender in DIE AKTE GENERAL ist die Darstellung der Blockade von Bauers Arbeit. Zeigen DER STAAT GEGEN FRITZ BAUER und IM LABYRINTH DES SCHWEIGENS sie noch als Gegenwehr diffuser Kräfte – einzelne Beamte aus BKA und BND – wird sie nun als Staatsräson präsentiert und erhält durch Adenauer und Globke ein bekanntes Gesicht: Der Bundeskanzler bangt um das »gute« Ansehen Deutschlands und fürchtet sich vor dem Einfluss der »Kommunisten«. Sein Staatssekretär zieht im Hintergrund die Fäden und setzt die Seilschaften aus Altnazis gegen Bauer ein. Obwohl eine direkte Konfrontation zwischen Bauer und Globke historisch nicht belegt ist, bildet die thematische Ausweitung auf die Ebene der Bundespolitik eine wichtige Ergänzung.
Doch auch diese Darstellung ist ambivalent. Einerseits verweist sie darauf, dass ein Teil der Nazi-Ideologie in der Bundesrepublik konserviert wurde: »Während es bis 1945 ein jüdisch-bolschewistisches Feindbild gab, wurde dies nach 1945 auf die Angst vor dem Kommunismus umgemünzt«, schreibt der Psychoanalytiker Jürgen Vogt (Vogt 2008: 74). Indem Spitzenpolitiker als die entscheidenden Antagonisten Bauers gezeigt werden, reduziert sich die Unfähigkeit zu trauern andererseits auf einen politischen Pragmatismus. Hier ist er wieder, der Mythos der »Machtergreifung«, der verschleiert, dass der Faschismus nicht »von oben« oktroyiert wurde, sondern eine Wunscherfüllung darstellte: Nahezu alle Berufsgruppen – am Fatalsten wohl Juristen, Wissenschaftler und das Militär – konnten ungehindert ihre tiefsten Sehnsüchte ausleben. So wichtig es also ist, den Einfluss der Naziseilschaften in allen Bereichen der deutschen Nachkriegsgesellschaft zu thematisieren – die Form des Politthrillers versperrt in DIE AKTE GENERAL den Blick darauf, warum die Nazi-Ideologie in der deutschen Bevölkerung so tragfähig gewesen ist.
Der Nationalsozialismus als Wunscherfüllung
In seiner psychohistorischen Skizze über den Westwall hat Hermann-Josef Berk sehr eindrucksvoll beschrieben, wie tief diese Ideologie in der deutschen Geschichte verwurzelt war. In der Nazidiktatur »nahm ein alter Geist, mit neuen Kräften und Ressourcen ausgestattet, extreme Fahrt auf« (Berk 2007: 5). Der tragende Affekt war ein aggressiv-destruktives, manisches Lebensgefühl, durch das sich jeder Deutsche als »Teil eines rasenden Gottes« fühlen konnte (ebd.: 4). Dadurch erklärt sich auch die Gigantonomie von Bauprojekten wie Prora, der Autobahn und des Westwalls als Abbilder dieses Wahns. Sie sollten dem Einzelnen vor Augen führen, »wie groß er selbst laut Propaganda war« (ebd.: 10). Der Spielfilm JUDGEMENT AT NUREMBERG greift diesen Gedanken auf. Als Richter Haywood (Spencer Tracy) das ehemalige Parteitagsgelände der Nazis besucht und zur Rednertribüne hinaufblickt, ist auf der Tonspur zunächst ein Militärmarsch zu hören und dann der Ausschnitt einer Hitlerrede aus Leni Riefenstahls Propagandafilm TRIUMPH DES WILLENS: »Vor uns liegt Deutschland, in uns marschiert Deutschland, und hinter uns kommt Deutschland«. In wenigen Einstellungen verdeutlicht der Regisseur Stanley Kramer hier den Größenwahn »zwischen ›Heimatfront‹ und ›Osterweiterung‹« (ebd.: 8). Noch drastischer zeigt es Stanley Kubrick in A CLOCKWORK ORANGE, wenn der Totschläger Alex (Malcolm MacDowell) mit einer Collage aus Beethovens Neunter Symphonie und Parteitagsbildern konfrontiert wird. Mit dieser Metapher zieht Kubrick eine noch unangenehmere Verbindungslinie von deutscher Hochkultur über die Nazidiktatur bis hin zur Jugendgewalt. 30 Jahre später wird István Szabó dies in TAKING SIDES erneut thematisieren, wenn Wilhelm Furtwängler, gespielt von Stellan Skarsgård, seine »innere Emigration« damit zu rechtfertigen versucht, dass »eine einzige Aufführung eines großen Meisterwerkes eine stärkere und lebendigere Verneinung des bösen Geistes von Buchenwald und Auschwitz« sei, als Worte es vermögen (Szabó 2001: o. S.).
In Szabós Film wird die Unfähigkeit zu trauern nicht nur als nachträgliche Umdeutung, sondern auch als Verblendung demonstriert. Hierdurch erklärt sich der Reflex, von allem nichts gewusst zu haben. Nach 1945, schreibt Hermann-Josef Berk, begannen die Deutschen, »die NS-Zeit in sich zu verkapseln, von sich abzuspalten und unkenntlich zu machen«. »Sie hatten doch nur am soundsovielten, millionsten Schreibtisch gesessen und Formulare ausgefüllt. Das ist der Schock, der die Absturzdepression überlagert. Wie mit dem Fallbeil waren alle Wahnbilder gigantischer Größe amputiert« (Berk 2007: 11).
»Tod und Zerstörung kamen für die Täter in dieser Gleichung nicht vor, weil sie als Verkehrung präsentiert wurden« (ebd.: 4). Völkermord hat es schon immer gegeben. In ihrem Größenwahn waren die Nazis aber die Ersten, die den Blick komplett von ihren Opfern abgewendet haben. Diese gingen »spurenlos auf in den Denkgleichungen des Nationalsozialismus«, schreibt Berk. In SCHINDLER‘S LIST führt uns Steven Spielberg die Monstrosität vor Augen, die mit der Idee des »Gottseins ohne Schuld« (ebd.: 12) einhergeht, indem er uns zusammen mit den Opfern die unmenschlichen Abläufe des Vernichtungslagers durchleben lässt. Für diesen »›Mord nach Wissenschafts-, Verwaltungs- und Industrieregeln‹ […] mussten neue Wahrnehmungs- und Gewichtungskategorien entwickelt werden, die heute in Den Haag zur Grundlage geworden sind« (ebd.: 5).
Im Vorfeld des Eichmannprozesses entwickelte der Psychoanalytiker Leopold Szondi den Begriff des Schreibtischtäters. Als Funktionär des Nationalsozialismus hatte Eichmann einen gesellschaftlichen Rahmen gefunden, in dem er seinen »unstillbaren Trieb zum Töten« (Szondi o. J. zit n. Kulcsar 1966: 182) ungehindert ausleben konnte. Das Gleiche gilt für Juristen, SS-Ärzte und das Militär. Hier wird erneut deutlich, wie die Vorstellung von einer »Machtergreifung« die eigene Verantwortung kaschieren will. »Dass nur 16.000 Verwaltungsleute diese ›Gleichschaltung‹ reichsweit organisatorisch schafften«, schreibt Hermann-Josef Berk, »ist eher ein Indiz als ein Wunder« (Berk 2007: 3). Der Drang nach Destruktivität und die Todessehnsucht, die durch den Nationalsozialismus eine ideologische Legitimation erhielt, ist für den Belsen-Überlebenden Szondi ein Urtrieb des Menschen, den er in der biblischen Figur des Brudermörders Kain symboli-siert sieht. In GESTALTEN DES BÖSEN beschreibt Szondi, wie »Kain« die Weltgeschichte regiert:
»Der Historiker stellt fest, daß die Weltgeschichte nicht die Verwirklichung eines ständigen Fortschreitens vom Niedrigen zum Höheren, vom Schlechteren zum Besseren, von der Knechtschaft zur Freiheit ist. […] Die tötende Gesinnung Kains ist äußerst erfinderisch. Sie fand in der Weltgeschichte immerfort neue Ziele und neue Motive zum Töten. […] Er regiert den Einzelnen von der Wiege bis zum Grabe und die Welt von der Steinzeit bis ins Atomzeitalter und noch weiter in Zeiten, die folgen werden« (Szondi 1969: 7. Rechtschreibung im Original).
Eine Nero-Ausstellung warb im letzten Jahr damit, »die Wahrheit hinter dem Klischee des verrückten Tyrannen« aufzudecken (Rheinisches Landesmuseum Trier 2016: o. S.). Auch die Pressestimmen zeigten sich erstaunt über die »fabelhafte Schau« und ihre »überraschenden Ergebnisse«, durch die das »Scheusal […] als vielgesichtige historische Gestalt erkennbar« werde (Stuttgarter Zeitung, Süddeutsche Zeitung, Frankfurter Allgemeine Zeitung 2016. Zit. n. Rheinisches Landesmuseum Trier 2016: o. S.). Wie auch immer man die Nero-Rezeption von Tacitus, Sueton und Cassius Dio interpretieren mag – eine Frage drängt sich hierbei auf: Was werden kommende Generationen über den Nationalsozialismus denken? Mehr als siebzig Jahre nach dem Holocaust befinden wir uns in einer Umbruchphase: In absehbarer Zeit wird es keine lebenden Zeugen mehr geben. Dann sind wir auf Dokumente und Bildmaterial angewiesen. Die Zahl historischer Quellen ist gigantisch. Wir können uns aber nicht mit ihnen austauschen. Wenn wir heute nach Auschwitz, Bergen-Belsen oder Groß-Rosen fahren, ist uns der tragende Affekt, der diese Mordstätten möglich gemacht hat, auf Anhieb nicht mehr zugänglich. Hierfür müssen wir die historischen Fakten mit der Frage ausleuchten, entlang welcher Entwicklungslinie und unter welchen Umständen es möglich ist,
»dass Abermillionen von Leuten nicht merken, dass sie in einem Spiegelkabinett herumjubeln, das ihnen für über ein Jahrzehnt jeden Maßstab und jeden Blick für Menschlichkeit genommen hat, das sie in ihrer Maßstabs- und Blicklosigkeit frenetisch sein und eine neue Form des Verbrechens erfinden lässt« (Berk 2007: 112)?
Die Fritz-Bauer-Filme als Selbstbilder
Kehren wir zu den Fritz-Bauer-Filmen und zu unserer Ausgangsfrage zurück. Wie Friedhelm Bellingroth in Anlehnung an Leopold Szondi erläutert hat, sind Spielfilmfiguren eine Projektionsfläche für den Zuschauer und wirken durch Introjektion auf ihn zurück (vgl. Bellingroth 1958). Mit wem identifizieren wir uns also beim Betrachten dieser Filme? Die eigentlichen Hauptfiguren sind in allen Fällen junge Staatsanwälte, die in ihren Anschauungen von Bauer geprägt werden. Mit anderen Worten: Durch die Augen der jungen Generation schauen wir auf Bauer als Vaterfigur, als Orientierungspunkt im Umgang mit dem Nationalsozialismus. Wenn wir die Filme als zeitgenössische Selbstbilder auffassen, präsentieren sie drei Varianten, wie mit der Zeit des Faschismus umgegangen wird: Radmann (IM LABYRINTH DES SCHWEIGENS) gelingt es, die verdrängte Vergangenheit in die Gegenwart zu integrieren, Angermann (DER STAAT GEGEN FRITZ BAUER) bleibt um den Preis der gesellschaftlichen Vernichtung unbestechlich, und Hell (DIE AKTE GENERAL) gerät zwischen die Fronten. Seine Wandlung kommt zu spät. Er wird von Bauer wegen seines Vertrauensbruchs verstoßen, obwohl er vom Mitläufer zum Unterstützer geworden ist. [2] Was ist nun die Lehre aus diesen Filmen? Offensichtlich sind wir in unserem Blick auf Fritz Bauer immer noch damit beschäftigt, eine angemessene Haltung gegenüber der Zeit des Nationalsozialismus und ihrer Verdrängung zu finden. Eine Auseinandersetzung mit den Denkmustern, die dem zu Grunde liegen, findet leider nicht statt.
Als Gegenkraft zu Kain führt Leopold Szondi die Figur des Moses ins Feld, der die tötende Gesinnung in Ethik verwandelt, vom Totschläger zum Religionsstifter wird: »Die Antwort Moses‘ auf Kain war der Dekalog«, schreibt Szondi (Szondi 1973: 8). Schauen wir ein letztes Mal auf SCHINDLER’S LIST. Hier ringen Kain und Moses in den Figuren von Amon Göth und Oskar Schindler miteinander. Auch Spielberg nimmt die historischen Figuren und Ereignisse zum Anknüpfungspunkt, die universelle Geschichte zu erzählen, wie es uns angesichts einer menschenverachtenden Ideologie gelingen kann, nicht ihrem Wahn zu verfallen, sondern ethisch zu handeln. Diese Frage muss immer präsent sein.
[1] Eine Variante dessen sehen wir in Tony Kayes AMERICAN HISTORY X: Auch hier sind die rechtsextremen Brüder Derek und Danny Vinyard (Edward Norton und Edward Furlong) zwischen einem »guten« und einem »bösen« Vater hin- und hergerissen. Erst durch den Impuls des Lehrers Dr. Sweeney (Avery Brooks), sich mit ihrer Gesinnung auseinander zu setzen, erkennen sie, dass sie den eigenen Vater idealisiert und seine rassistische Einstellung übernommen haben. Die Ermordung des Vaters durch einen Afroamerikaner war nicht der Grund, sondern nur der Auslöser für ihre Hinwendung zum Rechtsextremismus. Mit anderen Worten: Der Vater war nicht nur Opfer, sondern auch Täter.
[2] Neben den psychologischen Aspekten werden hier auch die biblischen Motive des Judas, des Märtyrers und der Entwicklung vom Saulus zum Paulus erkennbar.
Literatur
Bellingroth, Friedhelm (1958)
Triebwirkung des Films auf Jugendliche. Bern
Berg, Nicolas (2016)
»Selbstansprachen der Gegenwart. Die Spielfilme über Fritz Bauer im Kontext seiner Rezeptions- und Wirkungsgeschichte«. In: Einsicht 16. Herbst 2016. S. 38-47
Berk, Hermann-Josef (2007)
»Faszination in Beton«. Vortrag zur Fachtagung Zukunftsprojekt Westwall. Universitätsclub Bonn
Brauerhoch, Annette (1996)
Die gute und die böse Mutter. Kino zwischen Melodrama und Horror. Marburg
Gaus, Günter (1964)
»Zur Person: Hannah Arendt«. Zweites Deutsches Fernsehen [TC: 00:41:27]
Kulcsar, Istvan S. (1966)
»Ich habe immer Angst gehabt. Test- und Untersuchungsbefunde zur Persönlichkeit Adolf Eichmanns«. In: DER SPIEGEL 47/1966. Hamburg
Mitscherlich, Alexander und Margarete (1967)
Die Unfähigkeit zu trauern. Grundlagen kollektiven Verhaltens. München
Rheinisches Landesmuseum Trier 2016
»Nero, Kaiser, Künstler und Tyrann«. http://www.nero-ausstellung.de/fileadmin/Dateiverzeichnis/Bilder/Presse/Vorankuendigung/NERO_Presseinformation.pdf [PDF-Datei] [Abruf: 06.02.2017]
Szondi, Leopold (1969)
Kain. Gestalten des Bösen. Bern
ders. (1973)
Moses. Antwort auf Kain. Bern
Vogt, Jürgen (2008)
»Was ist deutsch?«. In: Jürgen Junglas (Hg.): Kultur der Therapie der Kulturen. Psychotherapie und Psychiatrie mit Migrationshintergrund. Bonn.
Abbildungen
Titelbild
Filmstills aus:
Im Labyrinth des Schweigens. Giulio Ricciarelli. DE. 2014
Der Staat gegen Fritz Bauer. Lars Kraume. DE. 2015
Die Akte General. Stephan Wagner. DE. 2016
Abb. 1
Filmstills aus:
Judgement at Nuremberg. Stanley Kramer. US. 1961
Abb. 2
Filmstills aus:
Schindler’s List. Steven Spielberg. US. 1993
Abb. 3
Filmstills aus:
Im Labyrinth des Schweigens. Giulio Ricciarelli. DE. 2014
Der Staat gegen Fritz Bauer. Lars Kraume. DE. 2015
Die Akte General. Stephan Wagner. DE. 2016
Filme
A Clockwork Orange. Stanley Kubrick. GB. 1971
American History X. Tony Kaye. US. 1998
Der Staat gegen Fritz Bauer. Lars Kraume. DE. 2015
Die Akte General. Stephan Wagner. DE. 2016
Im Labyrinth des Schweigens. Giulio Ricciarelli. DE. 2014
Judgement at Nuremberg. Stanley Kramer. US. 1961
Schindler’s List. Steven Spielberg. US. 1993
Taking Sides. István Szabó. FR, GB, DE, AU. 2001
Triumph des Willens. Leni Riefenstahl. DE. 1935
Margot Sieg-Baghdadli
6. Januar 2019 — 22:41
Diesen Beitrag habe ich gern gelesen, vielleicht gerade weil seine Sicht auf die Thematik mir bisher fern lag.
Letzteres nicht etwa, weil sie mir falsch scheint oder ich sie ablehne, sondern weil für mich vorrangig ist, DASS die kollektive Verdrängung in der Bundesrepublik beleuchtet wird und das aus unterschiedlichen Blickwinkeln. Denn sie prägte und prägt noch unsere Gesellschaft in dem Maße wie sie ausgeblendet wird.
Ob sie ein unvermeidliches Übergangsstadium war, ein notwendiges Übel um des Weiterlebens Willen, möchte ich dahingestellt sein lassen. Was mir jedoch einleuchtet ist, dass ein Verharren in diesem Zustand dem Reifungsprozess im Wege stehen muss, der allein Steine für einen Wall zur Abwehr derartiger Verirrungen liefern kann.
Die Frage nach den Ursachen dieser kollektiven Verdrängung taugt m.E. jedoch nur zum Auftakt des notwenigen Reifungsprozesses, nämlich wenn sie zunächst zu dem unumgänglichen Grauen und von dort zu den unzähligen geschichtlichen Entwicklungen und persönlichen Schicksalen führt, die mit dazu beigetragen haben, dass geschehen konnte, was nicht sein darf.
Für mich steht fest, dass die Entwicklung von Selbstbestimmungsfähigkeit und die Einsicht darin, wie JEDE Verletzung der Menschenwürde belastende Spuren hinterlässt – in den Beteiligten und in der Gesellschaft -, das beste Mittel sind, um uns vor so grauenhaften Irrwegen zu bewahren.
Nach meinem Dafürhalten hat das Fritz Bauer durch sein Wirken vertreten und gefördert.
Die drei besprochenen Filme sind für mich ebenso willkommene wie gelungene Versuche, etwas davon darzustellen bzw. anzureißen. Ebenso willkommen ist mir diese Analyse ihrer Vorzüge und Unzulänglichkeiten. Sie machte mir klar – gerade auch durch die Vergleiche und Zitate – wie wichtig diese Arbeiten sind und wie verdienstvoll jede ehrlich bemühte Auseinandersetzung in dieser Richtung.
Übrigens hat „Der Staat gegen Fritz Bauer“ für mich auch den Vorzug, ergänzend zu der Art von „Rosen für den Staatsanwalt“ etwas von dem atemberaubenden Muff von Nachkriegsdeutschland auferstehen zu lassen, den sich die Nachgeborenen sicher nicht vorstellen können und gegen den die sogenannten 68er blind entschlossen aufgestanden sind (so gut und so schlecht wie sie konnten).
Es hat mich geschüttelt … und mir dabei deutlich gemacht, dass wir zwar noch nicht weit gekommen sind, doch immerhin schon so viel weiter!
Holger Schumacher
16. Januar 2019 — 22:47
Sehr geehrte Frau Sieg-Baghdadli,
herzlichen Dank für Ihren ausführlichen Kommentar zu meinem Text. Ich bitte Sie um Nachsicht für meine späte Antwort.
Zurzeit ist auf arte.tv der zweiteilige Dokumentarfilm »Als die Nazis an die Macht kamen« zu sehen. Der erste Teil trägt den Untertitel »Machtergreifung«. Auch hier taucht also zumindest im Titel wieder die Vorstellung auf, Hitler sei – woher auch immer – gekommen und habe den Menschen in Deutschland den Nationalsozialismus aufgezwungen. Das ist kein Makel für den Film, denn er nimmt die Perspektive der Opfer ein und lässt diese zu Wort kommen. Dennoch zeigt der Untertitel, wie sehr sich der Begriff »Machtergreifung« eingeprägt hat, und wie gedankenlos er verwendet wird. Das verstellt den Blick auf die Tragfähigkeit dieser Ideologie als Wunscherfüllung, wie ich versucht habe, es herauszuarbeiten.
Viel wichtiger finde ich aber, eine Linie zu ziehen vom Nationalsozialismus über die frühe Bundesrepublik bis in die Gegenwart. Wenn wir heute von »Machtergreifung« und »Befreifung« sprechen, machen wir uns rückwirkend die Perspektive der Opfer zu eigen. Dabei mussten die Alliierten beinah um jedes Haus in Deutschland kämpfen. Aufgezwungen wurde also eher die Demokratie. Und sie konnte nur so schnell tragfähig werden, weil sie mit wirtschaftlichem Erfolg einherging, der die verlorengegangenen Größenphantasien des Nationalsozialismus kompensierte: Das Gefühl des »Wir sind wieder wer« galt nicht nur für die Fußballerfolge.
Heute, wo die Wohlstandsidylle ständigen Wachstums verloren gegangen ist und staatliche Einrichtungen wie Europa ihre Bindungskraft verlieren, zeigt sich, wie fragil die Idee der Demokratie noch ist. Da nun weder die Religion und erst recht nicht die Informatik die Rolle einnehmen, uns eine tragende Erzählung zu geben, die ausdrückt, wer wir sind und nach welchen Werten wir leben, fehlt uns eine verbindende Wahrheit. Darüber hat Neil Postman schon vor mehr als 20 Jahren geschrieben. Kein Wunder also, dass es zu religiösem und politischem Extremismus kommt, der das Sinnvakuum in einem Rückgriff auf vergangene Erzählungen füllen will. Das ist dann eine gefährliche Form des Selbst-Bewusstseins.
Herzliche Grüße aus Köln
Holger Schumacher