Beim Film Noir denkt man unweigerlich an Hochhausschluchten, dunkle Seitenstraßen und regennasses Kopfsteinpflaster. Doch dieses Klischee bleibt an der Oberfläche und wird der Schwarzen Serie nicht gerecht. In einer zweiteiligen Artikelserie gehen wir der Frage nach, was die urbane Grammatik des Film Noir ausmacht. Anhand von Paul Schraders NOTES ON FILM NOIR sowie Alexander Horwarths und Gustav Schlemmers Überlegungen zur Stadt im Film setzt sich der erste Teil mit den Themen, der visuellen Gestaltung sowie den literarischen Vorläufern der Schwarzen Serie auseinander.
»You know, there’s something that gets me about this town on a hot Saturday night«. (Scott Henderson in PHANTOM LADY)
Mit ihrem Aufsatz »Film und Stadt« untersuchen Alexander Horwarth und Gustav Schlemmer – in der Tradition Siegfried Kracauers – die historische Wechselwirkung von Urbanität und Kino. Sie gehen von der Annahme aus, dass »Stadt und Kino Orte sind, an denen identitätsstiftende und -zerstörende Momente einander aufs Heftigste bekämpfen« (Horwarth, Schlemmer 1991: 198). »Die Fähigkeit zum filmischen Sehen und die damit einhergehende Entwicklung der kinematografischen Apparatur« wiederum »läßt sich nur im Kontext eines tiefgreifenden Wandels des Stadtlebens seit der Renaissance begreifen« (ebd.: 198 f.). Beginnend bei den Brüdern Lumiére bis hin zu Ridley Scotts BLADE RUNNER (1982), analysieren Horwarth und Schlemmer realistische, mythische, utopische und dystopische Darstellungen der Stadt im Kino. Was die Schwarze Serie angeht, betonen sie die Wichtigkeit des Urbanen als zentralem Schauplatz: »Schon im Titel führen unzählige Films Noirs die Stadt als Biotop an: While The City Sleeps, Cry of the City, The Naked City, Night and the City, The City That Never Sleeps, The Asphalt Jungle« (ebd.). Dabei stellen die Autoren eine Dichotomie fest zwischen Films Noirs, die einen expressiven Charakter haben und solchen, die eher dokumentarisch angelegt sind (ebd). Im ersten Fall wird das Urbane als düsteres Labyrinth gezeigt; es dominiert
»[d]ie Abstraktheit der modernen Großstadt (in Luftaufnahmen sehen viele Städte aus wie Mikrochips oder Börsenkurse), ihre forcierte Schichtung in verschiedene soziale und Höhen- Niveaus (Unterwelt, U-Bahn, Kanalsystem, Keller; Straße, Bars, Restaurants, Autobahnen; kleinbürgerliche Wohnungen, Lichtreklamen knapp über dem Gehsteig; entrückte Salons und Penthouses der zumeist ›unsichtbaren‹ Fädenzieher), das Gefühl von Schwindel, Verzerrung, Identitätsverlust und ein Schicksal, das so vorgeplant ist wie die Zeittabellen der öffentlichen Verkehrsmittel« (ebd.: 208).
Als Beispiele nennen Horwarth und Schlemmer Jules Dassins NIGHT AND THE CITY und Rudolph Matés D.O.A. (beide 1950), in welchen die Protagonisten einmal auf der Flucht, das andere Mal auf der Suche nach ihrem Mörder atemlos durch London beziehungsweise Los Angeles hetzen (ebd.: 209).
In den so genannten semi-documentaries hingegen herrscht die Tendenz zu »›realistischen‹, ›faktengetreuen‹, ›objektiven‹ Erörterungen des Verbrechens in der Stadt« (ebd.). Hier wird eine »Autopsie« der Großstadt durchgeführt; sie gerät »zum Stadtplan, auf dem metallische Knöpfe Orte, Taten und Personen markieren«. Der dokumentarische Charakter dieser Filme wird in der Regel noch durch eine Erzählerstimme aus dem Off unterstrichen (ebd.). Dies können die Protagonisten des Films sein, welche die Geschichte aus der Rückschau kommentieren wie in KISS OF DEATH (1947), ein auktorialer Erzähler wie in THE NAKED CITY (1948) oder eine Mischung aus beidem wie in CALL NORTHSIDE 777 (1948). Diese Art der Voice-Over-Erzählung muss von der für den Film Noir typischen Rahmenhandlung unterschieden werden, bei welcher am Beginn des Films der Protagonist gezeigt wird, der sich an die – nun folgende – Geschichte erinnert, oft in der Form eines Geständnisses wie in DOUBLE INDEMNITY oder MURDER, MY SWEET (beide 1944). Hier geht es nicht um die Unterstreichung des Realitätseffektes, sondern um eine ausschließlich subjektivierende Erzählweise (vgl. Röwekamp 2003: 102 f.).
Studio versus Street pictures
Die Aufgabelung in expressionistische und dokumentarische Stadtfilme, die Horwarth und Schlemmer beschreiben, lässt sich anhand von Paul Schraders NOTES ON FILM NOIR genauer analysieren. Er teilt den klassischen Film Noir (der vierziger und fünfziger Jahre) in drei Phasen ein, welche sich durch die Anmutung und die Themen der jeweiligen Filme voneinander abgrenzen lassen (Schrader 1996: 105). Die erste Phase – von 1941 bis 1946 – zeichnet sich durch ihren »studio look« aus (ebd.). Der Plot dieser Filme basiert in der Regel auf literarischen Vorlagen der so genannten hard boiled school, auf Autoren wie Raymond Chandler, Dashiell Hammett oder Graham Greene (ebd.). Das heißt, thematisch dominieren hier romantisch angelegte Detektiv- und Spionagegeschichten. Die Bewegung durch das Urbane ist dabei auf ein Minimum begrenzt, und die Filme beinhalten in der Regel »more talk than action« (ebd.). Als Beispiele für diese Phase des Film Noir nennt Schrader unter anderem THE MALTESE FALCON (1941), THE GLASS KEY (1942), THE MASK OF DIMITRIOS (1944), MILDRED PIERCE (1945), SCARLET STREET (1945), THE STRANGE LOVE OF MARTHA IVERS (1946), GILDA (1946) und THE DARK MIRROR (1946). Diese Liste könnte noch ergänzt werden um THE SHANGHAI GESTURE (1941), CONFLICT oder MINISTRY OF FEAR (beide 1945). Bezüglich des Romantizismus, den Schrader der ersten Noir-Periode zuschreibt (Schrader 1996: 103), muss allerdings noch differenziert werden zwischen Filmen, die mit einem Happy End (zum Beispiel durch Paarbildung) schließen – wie LAURA, MURDER, MY SWEET (beide 1944) oder THE BIG SLEEP (1946) – und solchen, die tragisch enden, zum Beispiel HIGH SIERRA (1941), JOHNNY EAGER (1942) oder THE POSTMAN ALWAYS RINGS TWICE (1946).
DOUBLE INDEMNITY (1944) sieht Schrader als Brücke zur »postwar realistic period« des Film Noir (ebd.: 105). Das Drehbuch, geschrieben von Billy Wilder und Raymond Chandler, basiert auf einer Story von James M. Cain. Dies entspricht noch Schraders Definition der ersten Noir-Periode. Die kühle Inszenierung von DOUBLE INDEMNITY, das Fehlen eines romantischen Helden und seine düsteren, realistischen Schauplätze (Seitenstraßen, Bahngleise sowie ein Supermarkt als Treffpunkt der Mörder) unterscheiden ihn aber von vorgenannten Filmen. Der Realismus, welcher sich bezüglich Themen und Stil zwischen 1945 und 1949 einstellt (vgl. ebd.: 105 f.), wird von Schrader mit einem Wahrnehmungswandel der US-amerikanischen Bevölkerung nach dem Zweiten Weltkrieg erläutert:
»The disillusionment that many soldiers, small businessmen, and housewife / factory employees felt in returning to a peacetime economy was directly mirrored in the sordidness of the urban crime film. […] [T]he public’s desire for a more honest and harsh view of America would not be satisfied by the same studio streets they had been watching for a dozen years. The postwar realistic trend succeeded in breaking film noir away from the domain of the high-class melodrama, placing it where it more properly belonged, in the streets with everyday people« (ebd.: 101).
Manche Films Noirs dieser Periode wie THE BLUE DAHLIA (1946), BERLIN EXPRESS (1948) oder ACT OF VIOLENCE (1949) heben die Traumata der Kriegszeit und die Schwierigkeiten der Heimkehrenden in den Vordergrund, [1] andere beschäftigen sich mit den Themen Kriminalität, Polizeiarbeit und Korruption in der Großstadt (ebd.: 106). NOBODY LIVES FOREVER (1946) von Jean Negulesco verbindet die beiden Themenkomplexe und erzählt die Geschichte des Kriegsveteranen Nick Blake (John Garfield), der nach seiner Rückkehr versucht, eine Karriere als Heiratsschwindler fortzuführen. In Filmen wie CALL NORTHSIDE 777, CANON CITY, THE NAKED CITY (alle 1948), HE WALKED BY NIGHT (1949) und PANIC IN THE STREETS (1950) wird der dokumentarische Ansatz, den Horwarth und Schlemmer beschreiben (Horwarth, Schlemmer 1991: 209), mit dem Motiv der Bewegung durch unterschiedlichste Schauplätze und soziale Milieus der Großstadt verknüpft. Motiviert ist diese Bewegung stets durch die Aufklärung eines Verbrechens. Das kann die Suche nach Zeugen und Beweisen oder aber die actiongeladene Jagd nach den Tätern sein.
Kritik versus Affirmation
THE NAKED CITY nimmt in der Reihe dieser Filme eine Sonderstellung ein: Hier wird versucht, einen umfassenden Blick auf das Urbane zu gewinnen, den Widerspruch von Individuum und Kollektiv greifbar zu machen, der nach Georg Simmel grundlegend für das Leben in der Großstadt ist (Simmel 1903a: o. S.). In ihrer Besprechung von King Vidors THE CROWD (1928) beziehen sich Horwarth und Schlemmer auf Walt Whitmans Gedicht MANNAHATTA: »Die Mission seiner Poetik ist die Wiedervereinigung vereinzelter Individuen im gemeinsamen Körper der Stadt« (Horwarth, Schlemmer 1991: 203). Dazu kombiniert THE NAKED CITY den panoramatischen und den sondierenden Blick auf die Großstadt (ebd.: 201). Der Film beginnt aus der Gottesperspektive, mit einer Luftaufnahme von New York, und wechselt dann zu kurzen Portraits ihrer Bewohner – einer Putzfrau, dem Schriftsetzer einer Zeitung, einem Radio-Jockey sowie dem Gangster Garzah (Ted de Corsia), der seinen Komplizen Backalis erschlägt und in den Fluss wirft. Dieser Mord wird von einem lakonischen Kommentar aus dem Off begleitet (der Produzent des Films, Mark Hellinger, nimmt hierbei die Rolle des Erzählers ein): »And even this two can be called routine in a city of eight million people«. Im Laufe des Films, wenn die Polizisten den Morden an Backalis und einer jungen Frau »nachgehen«, werden – im wahrsten Sinn des Wortes en passant – immer wieder kurze Einblicke in das Leben der Stadtbewohner gegeben, die sich über alltägliche Dinge unterhalten. Die Millionenmetropole New York wird – um mit Victor Hugo zu sprechen – gleichsam in ihren Atomen studiert. [2] Der Mordfall ist das Ereignis, welches die Menschen in der Stadt vereint, indem sie entweder als Zeugen befragt werden oder als Beobachter des Kriminalfalles mitfiebern (vgl. Dimendberg 2004: 68). Wenn der Polizist Halloran (Don Taylor) am Ende eines Arbeitstages in der Hochbahn nach Hause fährt, sehen wir, wie sich die anderen Fahrgäste über die neuesten Zeitungsberichte des Mordfalles austauschen.
Die Jagd nach dem Mörder führt den Zuschauer überdies durch die verschiedenen »Höhen-Niveaus« der Stadt (Horwarth, Schlemmer 1991: 208): Von der Subway zur Ebene des Bürgersteigs und zur Hochbahn, über den Blick aus Penthouses und Wolkenkratzern bis hoch auf die Pfeiler der Williamsburg Bridge. Um die »Autopsie der Stadt« (ebd.: 209) möglichst eindrucksvoll zu gestalten, kommt in den Films Noirs zwischen 1945 und 1949 ein weiteres Charakteristikum der Schwarzen Serie zum Einsatz: »[I]t ist he unique quality of film noir that it was able to weld seemingly contradictory elements into a uniform style […], directing unnatural and expressionistic lighting onto realistic settings« (Schrader 1996: 102). Dieser Wandel ist mit der Entstehung des Impressionismus in der Malerei vergleichbar: Auch hier traten die Künstler den Weg auf die Straße an und ließen die künstliche Welt des Ateliers hinter sich.
Der Stimmungsgehalt, den die Streetpictures ab 1945 transportieren, lässt sich aber nicht ausschließlich durch die Synästhesie von location shooting und Chiaroscuro-Effekt der Fotografie erklären. In THE NAKED CITY sehen wir eine Reihe von Orten, die mit natürlicher Lichtgestaltung aufgenommen sind, durch die Kadrage des Bildes aber eine besondere Magie entfalten: Straßenschluchten, Wolkenkratzer, Blicke aus der Hochbahn, Brücken und Industrielandschaften. Diese Aufnahmen stehen nicht in der Tradition des filmischen Expressionismus, sondern erinnern an die Neue Sachlichkeit von Heinrich Hausers Dokumentarfilm CHICAGO – WELTSTADT IN FLEGELJAHREN (1931).
Die unterschiedliche Wirkung dieser Ansätze lässt sich durch Georg Simmels Gedanken zur »Soziologie des Raumes« erläutern (Simmel 1903b: o. S.). Darin analysiert er die für den expressionistischen Kamerastil grundlegende Rolle der Dunkelheit:
»Das Dunkel gibt der Zusammenkunft überhaupt einen ganz besonderen Rahmen, der die Bedeutsamkeit des Engen und des Weiten zu einer eigentümlichen Vereinigung bringt.
Indem man nämlich nur die allernächste Umgebung übersieht, und hinter dieser sich eine undurchdringliche schwarze Wand erhebt, fühlt man sich mit dem Nächststehenden eng zusammengedrängt, die Abgegrenztheit gegen den Raum jenseits des sichtbaren Umfanges hat ihren Grenzfall erreicht: dieser Raum scheint überhaupt verschwunden zu sein.
Andererseits lässt eben dies auch die wirklich vorhandenen Grenzen verschwinden, die Phantasie erweitert das Dunkel zu übertriebenen Möglichkeiten, man fühlt sich von einem phantastisch unbestimmten und unbeschränkten Raum umgeben.
Indem nun die im Dunkeln natürliche Ängstlichkeit und Unsicherheit hier durch jenes enge Zusammengedrängtsein und Aufeinander-Angewiesensein Vieler behoben wird, entsteht jene gefürchtete Erregung und Unberechenbarkeit des Zusammenlaufs im Dunkeln, als eine ganz einzige Steigerung und Kombination der einschliessenden und der sich expandierenden räumlichen Begrenzung« (ebd. Rechtschreibung und Zeichensetzung im Original).
In den expressionistisch ausgeleuchteten Szenen des Film Noir entsteht die visuelle Spannung also durch eine Ambivalenz von Systole und Diastole; die Räume wirken zugleich intim und grenzlos-offen. Zieht man von hier aus eine Verbindungslinie zu dem sozialpsychologisch ambivalenten Charakter der Großstadt, dann lässt sich die Kombination von location shooting und expressionistischer Lichtführung als Ausdrucksmittel deuten, die Gleichzeitigkeit von Anonymität und Ausgeliefertsein, von Einsamkeit und Gemeinschaft in der Großstadt »sichtbar« zu machen.
Obwohl sie sich eines anderen visuellen Stiles bedienen, verfolgen die dokumentarisch angelegten Aufnahmen ein ähnliches Ziel: Hier geht es um die »Individualisierung des Ortes« (ebd.), wie sie für Simmel durch die im 19. Jahrhundert übliche Benennung von Häusern mit Eigennamen zum Ausdruck kommt:
»Gegenüber den Flutungen und Nivellierungen des sozialen, insbesondere des städtischen Verkehrs, dokumentiert jene Benennungsart eine Unverwechselbarkeit und Personalität des Daseins nach einer räumlichen Seite hin, die aber freilich im Vergleich mit dem jetzigen Zustand mit einer Unbestimmtheit und einem Mangel an objektiver Fixiertheit bezahlt wird und deshalb oberhalb einer gewissen Weite und Raschheit des Verkehrs verschwinden muss.
[…]
Die äusserste Stufe ist dann nach der einen Seite die Bezeichnung von Hotelgästen nach ihrer Zimmernummer, nach der andern, dass auch die Strassen nicht mehr benannt, sondern fortlaufend beziffert werden, wie teilweise in New York« (ebd.).
Die Bilder von Architektur und Verkehrswegen (Straßen, Brücken, Bahngleise) in THE NAKED CITY entspringen derselben Motivation wie die Darstellung der Stadtbewohner. In beiden Fällen oszilliert der Film ständig zwischen dem Allgemeinen und dem Speziellen, zeigt Menschenmassen und Einzelportraits, Panoramen und Detailaufnahmen der Großstadt. Dabei werden sowohl offizielle Schauplätze – Boulevards, Plätze, Bahnstationen und Brücken – als auch »geheime Orte« (Sieverts 2003: 15) – Hinterhöfe, Seitenstraßen, Industriegebiete – von den Protagonisten durchquert. Diese Aufnahmen werden zu einem Gedicht an die Großstadt verbunden, das in THE NAKED CITY noch von dem lyrischen Kommentar des Erzählers ergänzt wird. Die anonyme, unübersichtliche Großstadt New York, deren Straßen keine Eigennamen, sondern Ordnungszahlen haben, erhält ein vertrautes Gesicht, indem auch ihre abseitigen Orte wie Güterbahnhöfe oder Hafenanlagen poetisiert werden. Dieses Verfahren erinnert an die Ästhetik des Hässlichen in der expressionistischen Lyrik vor dem Ersten Weltkrieg. Jakob van Hoddis’ Gedicht MORGENS ist ein gutes Beispiel für dieses Stilmittel. Darin stellt er Impressionen des Stadtlebens Bildern aus der Natur gegenüber.
»Die Morgensonne rußig. Auf Dämmen donnern Züge.
Durch Wolken pflügen goldne Engelpflüge.
Starker Wind über der bleichen Stadt.
Dämpfer und Kräne erwachen am schmutzig fließenden Strom.[…]
Sieh in das zärtliche Licht.
In der Bäume zärtliches Grün.
Horch! Die Spatzen schrein.
Und draußen auf wilderen Feldern
Singen Lerchen.«(Van Hoddis 1914)
Die Entfremdung von der Großstadt und die Sehnsucht nach Abgeschiedenheit, die hier zum Ausdruck kommen, sind in THE NAKED CITY zu einem liebevollen Staunen über das Urbane in allen seinen Ausprägungen geworden. Dieses Staunen zeigt sich bereits in der ersten Einstellung, dem imposanten Luftbild von New York, das mit der Ankündigung des Erzählers unterstrichen wird, das nackte, unverstellte Gesicht der Großstadt zu zeigen: »This is the city as it is: hot summer pavements, the children that play, the buildings in their naked stone, the people without make-up« (Mark Hellinger 1948: o. S.).
Diese Einstellung ähnelt zwei berühmten Stadtgedichten aus dem 19. und 20. Jahrhundert: In dem Sonnet COMPOSED UPON WESTMINSTER BRIDGE (1802) beschreibt William Wordsworth den majestätischen Anblick des morgendlichen London:
»Earth has not anything to show more fair:
Dull would he be of soul who could pass by
A sight so touching in its majesty«
Auch bei Wordsworth finden wir – wie in Van Hoddis‘ Gedicht und Dassins Film – das Bild der gerade erwachenden Stadt wieder: »And all that mighty heart is lying still«. Carl Sandburgs Ode an Chicago (1914) greift die Ästhetik des Hässlichen auf, wendet sie jedoch ins Positive:
»They tell me you are wicked and believe them, for I have seen your painted women under the gas lamps luring the farm boys.
And they tell me you are crooked and I answer: Yes, it is true I have seen the gunman kill and go free to kill again.
And they tell me you are brutal and my reply is: On the faces of women and children I have seen the marks of wanton hunger.
And having answered so I turn once more to those who sneer at this my city, and I give them back the sneer and say to them:
Come and show me another city with lifted head singing so proud to be alive and coarse and strong and cunning«(Sandburg 1914)
Statt mit konventionellen Bildern zu arbeiten, setzt Sandburg auf Wahrhaftigkeit, auf die Spannung zwischen Kritik und Affirmation, und gerade deshalb – um mit Karl-Heinz Deschner zu sprechen – erscheint uns die Stadt viel plastischer. [3] 30 Jahre nach THE NAKED CITY wird Woody Allen diesen Ansatz in seiner Liebeserklärung an New York wieder aufgreifen. Die imposante Eingangssequenz von MANHATTAN (1979) feiert nicht nur die Stadt, sondern auch die Vorbilder aus der Schwarzen Serie. Und es ist der gleiche Blickwinkel, der uns auch in William Friedkins THE FRENCH CONNECTION (1971) oder Sidney Lumets PRINCE OF THE CITY (1981) präsentiert wird.
Sowohl die expressionistisch als auch die dokumentarisch angelegten Aufnahmen des Film Noir zielen also – mit unterschiedlichen Mitteln – darauf ab, die Widersprüche des Lebensraumes Großstadt darzustellen. Im ersten Fall wird das Stilmittel der Dunkelheit, genauer gesagt, die Chiaroscuro-Fotografie genutzt, um die Spannung zwischen Offenheit und Geschlossenheit, Einsamkeit und Gemeinschaft zu intensivieren. Der dokumentarische Stil hingegen individualisiert Menschen und Räume. Sein Ziel ist es, ein wahrhaftiges Bild des Urbanen zu zeichnen. Deshalb fließen auch die abseitigen und hässlichen Elemente (Verbrechen, unwirtliche Schauplätze) in die Liebeserklärungen an New York, Chicago oder Los Angeles ein. Sie verkehren sich dadurch in ihr Gegenteil, erhalten einen poetischen Wert. Die Ambivalenz zwischen Individuum und Kollektiv, Intimität und Anonymität sowie zwischen Schutz und Ausgeliefertsein wird in den semi-documentaries durch eine Verbindung von panoramatischen und sondierenden Blicken (Horwarth, Schlemmer 1991: 201) ausgedrückt: Majestätische Eindrücke von Skylines und Menschenmassen wechseln sich ab mit Detailansichten der Stadt sowie Momentaufnahmen aus dem Leben ihrer Bewohner. In Anlehnung an Austins Sprechakttheorie können wir auch sagen: Der expressionistische Stil entspricht einem performativen, die dokumentarischen Bilder eher einem konstativen Vorgehen, was die Darstellung der Großstadt angeht. Dabei greifen die Noir-Regisseure sowohl auf filmische als auch auf literarische Vorbilder zurück: Auf Carl Sandburg und die Lyrik des deutschen Expressionismus genauso wie auf die filmischen Stadtsymphonien von Dziga Vertov, Heinrich Hauser oder Paul Strand und Charles Sheeler. Der Versuch, das Urbane in seiner Gesamtheit, im Nebeneinander von Schönem und Hässlichem zu erfassen, verbindet diese Lyriker und Regisseure.
Dies ändert sich ab den fünfziger Jahren: In der dritten Phase des Film Noir, die Schrader als »period of psychotic action and suicidal impulse« beschreibt (Schrader 1996: 106), spielt die Darstellung des Urbanen nur noch eine untergeordnete Rolle. Thriller wie WHERE THE SIDEWALK ENDS (1950), THE BIG NIGHT (1951), THE BIG HEAT (1953) oder ROGUE COP (1954) wirken – was den Blick auf die Großstadt angeht – beinahe gleichgültig. Raoul Walshs viel gerühmter Film WHITE HEAT (1949) erinnert von seiner Ausleuchtung und den Dekors her eher an einen Gangsterfilm der dreißiger Jahre. Dies spiegelt sich auch in Schraders Analyse wieder: Er geht nicht mehr auf die visuelle Gestaltung der Filme ein, sondern widmet sich fast ausschließlich ihren Figuren:
»After ten years of steadily shedding romantic conventions, the later noir films finally got down to the root causes of the period: the loss of public honor, heroic conventions, personal integrity, and, finally, psychic stability. The third-phase films were painfully self-aware; they seemed to know they stood at the end of a long tradition based on despair and disintegration« (ebd.).
Für Schrader ist diese Phase »the most aesthetically and sociologically piercing« (ebd.). Ziehen wir Edward Dimendbergs Untersuchung zur Stadt im Film Noir heran, kann sie im Vergleich mit den Studio- und Straßenfilmen der Vorjahre aber auch als Verfallsperiode des Film Noir gedeutet werden. Diesem Ansatz widmen wir uns in Teil zwei unserer Artikelserie.
[1] In seiner Untersuchung zum American Cinema of the 1940s leitet Wheeler Winston Dixon die Analyse von THE BLUE DAHLIA mit der Überschrift »An Alien Land after the War« ein (Dixon 2006: 174).
[2] »Paris, in einem seiner Atome studiert«. So betitelt Victor Hugo ein Kapitel seines Romans DIE ELENDEN.
[3] Vgl. Deschners Gegenüberstellung von Herbstgedichten in: Kitsch, Konvention und Kunst (1991)
Literatur
Austin, John Langshaw (1962)
How to Do Things with Words. Cambridge
Deschner, Karl-Heinz (1991)
Kitsch, Konvention und Kunst. Eine literarische Streitschrift. Frankfurt
Dimendberg, Edward (2004)
Film Noir and the Spaces of Modernity. Cambridge. 1. Aufl.
Dixon, Wheeler Winston (2006)
American Cinema of the 1940s. Themes and Variations. Oxford
Horwarth, Alexander u. Gottfried Schlemmer (1991)
»Film und Stadt«. In: Bernhard Perchinig u. Winfried Steiner (Hg.): KAOS STADT. Möglichkeiten und Wirklichkeiten städtischer Kultur. Wien. S. 198-215
Hugo, Victor (1991)
Die Elenden. Zürich
Kracauer, Siegfried (1960)
Theorie des Films. Die Errettung der äußeren Wirklichkeit. Frankfurt
Sandburg, Carl (1914)
»Chicago«. In: Carl Sandburg (1992/1916): Chicago Poems. University of Illinois Press. S. 3
Schrader, Paul (1996/1972)
»Notes on Film Noir«. In: R. Barton Palmer (Hg.) (1996): Perspectives on Film Noir. New York. S. 99-109
Silver, Alain und Elizabeth Ward (Hg.) (1992/1979)
FILM NOIR. An Encyclopedic Reference to the American Style. New York. Dritte, erweiterte Aufl.
Simmel, Georg (1903a)
»Die Großstädte und das Geistesleben«. http://socio.ch/sim/sta03.htm
ders. (1903b)
»Soziologie des Raumes«. http://www.socio.ch/sim/verschiedenes/1903/raum.htm
Van Hoddis, Jakob (1914)
»Morgens«. In: Kurt Pinthus (Hg.): Menschheitsdämmerung. Ein Dokument des Expressionismus. Berlin. 31. Aufl. 2001
Abbildungen
Titelbild
Filmstills aus:
The Naked City. Jules Dassin. US. 1948
Killer’s Kiss. Stanley Kubrick. US. 1955
Act of Violence. Fred Zinnemann. US. 1948
Phantom Lady. Robert Siodmak. US. 1944
Abb. 1 + 2
Filmstills aus:
The Naked City. Jules Dassin. US. 1948
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