Mit TWO LOVERS (2008), BLUE VALENTINE (2010) und LOVE (2015) waren in den letzten Jahren düstere Bilder von Liebe, Partnerschaft und Familie im Kino zu sehen. Anhand der Überlegungen des Psychoanalytikers Rolf-Arno Wirtz, die er in seinem Aufsatz Die Sexualität zwischen Fluch und Utopie zusammengefasst hat, untersuchen wir, was uns diese Filme über den herrschenden Zeitgeist verraten. Dazu schauen wir auf ihre Themen, ihre Inszenierung und die Dramaturgie und ziehen Vergleiche zu früheren Kinodarstellungen. Welche Entwicklung wird hier deutlich, wenn es um unsere Vorstellungen von Sexualität und Bindung geht?

Inszenierung als Hyperrealismus

Gaspar Noés jüngster Film LOVE erinnert in vielen Aspekten an Catherine Breillats Drama ROMANCE (1999).  Erstaunlich ist, dass ein Mann und eine Frau über den Abstand von anderthalb Jahrzehnten zu einem vergleichbaren Ergebnis als Filmemacher kommen. Die Hauptfiguren beider Filme, Murphy (Karl Glusman) beziehungsweise Marie (Caroline Ducey), scheinen sich nach Liebe und Romantik zu sehnen, doch Noé und Breillat führen unbarmherzig vor, wie schwierig es sein kann, wenn zwei Menschen miteinander im Bett liegen. Wir können das Realismus nennen. Das gilt auch für BLUE VALENTINE, wo die Annäherung und das Auseinanderleben des Paares fast einen dokumentarischen Charakter haben. Um dies zu erreichen, setzte der Regisseur Derek Cianfrance verschiedene Techniken der Schauspielführung ein und kombinierte sie mit dem, was William Friedkin »induced documentary style« nennt. In THE FRENCH CONNECTION (1971) probte Friedkin eine Reihe von Szenen ohne Auflösung und in Abwesenheit des Kameramanns. Bei der anschließenden Aufnahme musste dieser dann so spontan reagieren wie in einem Dokumentarfilm. Diese Technik macht einen Großteil der realistischen Anmutung von Friedkins Thriller aus. Cianfrance ging für BLUE VALENTINE noch einen Schritt weiter und löste die Grenzen zwischen Realität und Inszenierung auf. Um die Identifikation seiner Darsteller mit ihren Figuren zu erleichtern, passte er den Drehplan der Geschichte an und inszenierte chronologisch. Damit die Bilder des ersten Dates besonders naturalistisch wirkten, führte Cianfrance die Schauspieler außerdem erst auf dem Set zusammen und ließ sie improvisieren. Die konsequente Fortsetzung dieses Ansatzes nutzte er dann für die Szene im Hotelzimmer, welche die Trennung des Paares einläutet. Damit Ryan Gosling und Michelle Williams eine stärkere Backstory entwickeln konnten, ließ er sie einen Monat lang in der Filmlocation zusammenleben. Auch Gaspar Noé war darauf aus, den Naturalismus seines Films zu verstärken. Visuell setzte er dafür die 3D-Technik ein, inszenatorisch wollte er ursprünglich ein echtes Paar als Hauptdarsteller besetzen. In eine vergleichbare Richtung gingen auch die Überlegungen James Grays, der in TWO LOVERS einen »bodenständigen und naturalistischen Stil« anstrebte.

In LOVE und ROMANCE laufen die Kameras da weiter, wo übliche Dramen ausblenden, und zwingen den Zuschauer durch eine zermürbende Tour de Force von Sadomasochismus und expliziten Sexszenen. Das ist der Punkt, an dem der Naturalismus zur Pornographie wird, zumindest wenn wir an Slavoj Žižeks Definition denken:

Das unerreichbare / verbotene Objekt (der sexuelle Akt), dem sich der »normale« Liebesfilm annähert, ohne es jemals zu erreichen, existiert nur als verborgenes, angedeutetes, »vorgetäuschtes« Objekt – sobald »es gezeigt wird«, verpufft sein Charme, man ist »zu weit gegangen«, anstelle des sublimen Dinges trifft man auf vulgäre, stöhnende Unzucht.

Daraus folgt, daß die Harmonie, die Übereinstimmung zwischen filmischer Erzählung (der Entwicklung der Geschichte) und unmittelbarer Zurschaustellung des sexuellen Aktes strukturell unmöglich ist: wählt man eines, so verliert man zwangsläufig das andere. […] Durch den sexuellen Akt würde ein Reales eindringen, das die Konsistenz dieser Realität untergräbt (2002 a: 51 ff.).

Deswegen kann Žižek Breillats Filmen nicht viel abgewinnen, versteht sie als unmöglichen Versuch, Drama und Pornographie zu integrieren (Toronto International Film Festival 2016: o. S.). Doch haben wir es hier tatsächlich mit Pornographie zu tun? Diese »entspringt männlichen homosexuellen Vorstellungen über Frauen«, weil es die Männer dabei mit sich selbst treiben (Vogt 2011: 27). Die Filme von Breillat und Noé sind aber nicht auf sexuelle Erregung ausgelegt, es sei denn, man fühlte sich durch eine Aneinanderreihung von Perversionen angesprochen. Perversion bedeutet, dass Lust daraus entsteht, wenn ein Anteil der Sexualität überdreht wird. Die entsprechenden Filmszenen strahlen eine große Kälte aus, auch wenn beide Regisseure dabei mit der Farbe Rot arbeiten. Die Inszenierung strebt hier eine Art von Hyperrealismus an, der die Grenzen des konventionellen Beziehungsdramas ausweiten will. Es sind keine Liebes-, sondern Triebszenen. Wir können die Filmtitel bei Breillat und Noé deshalb entweder als Zynismus auffassen oder als Hinweis auf die Leerstelle, auf die verzweifelte Suche der Figuren nach dem fehlenden Anteil.

»Von der abweichenden zur ausweichenden Sexualität«

»Sexuelle Erregung – erotisches Begehren – Liebe, so bewegt sich die Entwicklung«, schreibt der Psychoanalytiker Rolf-Arno Wirtz (1998: 75). Doch in LOVE sind diese Schritte verzögert, so dass Murphy stets zu spät kommt.

Die sexuelle Erregung ist dem Trieb am nächsten […] Dabei ist das Objekt vollkommen austauschbar, hat höchstens eine Bedeutung als Fetisch, der immer eine leere geistige Struktur hat, der, wenn er die Kraft nicht mehr vermittelt, eine Kettenreaktion immer neuer Objekte auslöst (Wirtz 1998 a: 75 f.).

Das sehen wir, wenn Murphy mit seiner Nachbarin Omi (Klara Kristin) und einer Partybekanntschaft fremdgeht. Letztere Szene taucht Gaspar Noé in ein giftiges Grün, die Farbe der Eifersucht. Die Sexualität zwischen Murphy und seiner Partnerin Electra (Aomi Muyock) ist von der Zeugung abgekoppelt, beschränkt sich auf die Befriedigung der sexuellen Erregung. Der Bruch zwischen beiden kommt erst dadurch zustande, dass Omi von Murphy schwanger wird. Electras Eifersucht liegt darin begründet, dass ihr Partner mit der Rivalin einen Entwicklungsschritt machen kann, der ihr selbst versagt bleibt. Die kurze, aber intensive ménage à trois zwischen Murphy, Electra und Omi weckt mehrere Assoziationen. Erstens veranschaulicht sie die Dynamik der Triangulierung in einer Paarbeziehung:

Damit ist […] der in der bewußten oder unbewußten Phantasie bei der Sexualität anwesende Dritte gemeint. Dieser Dritte, der drohende ödipale Rivale, läßt dann gerade in der Sexualität den Wunsch befriedigen, das einzige, bevorzugte, ausschließliche Objekt des Sexualpartners zu sein (ebd.: 80).

Das ist ein klassisches Filmthema, das wir in seiner komödiantischen Form zum Beispiel in George Cukors Screwball-Komödie THE PHILADELPHIA STORY (1940) sehen oder in einer dunkleren, neurotischen Tönung in Alfred Hitchcocks NOTORIOUS (1946). Im konventionellen Hollywoodkino führt dies über Irrungen und Wirrungen schließlich zu einer Bindung zwischen Mann und Frau. Das ist, was Slavoj Žižek die »ödipale Geschichte von der Initiationsreise des Paares« nennt (2002 b: 15), die er mit der Periode des liberalen Kapitalismus zusammenbringt: »Die Initiationsreise des Paares, die mit ihren Hindernissen die Sehnsucht nach Wiedervereinigung schürt, ist fest gegründet auf die klassische Ideologie des ›autonomen‹ Subjekts, das durch Prüfungen gestärkt wird« (ebd.: 18).

Die Szene in LOVE, die zum zentralen Bild des Films geworden ist, rückt die Themen, welche in der Goldenen Ära des Kinos unter der Oberfläche schwelen, unverstellt in den Vordergrund. Sie ist nichts anderes als die Visualisierung eines elektralen Konfliktes, durch den der Name der weiblichen Hauptfigur seine Bedeutung erhält: Die imaginäre Rivalin der Frau liegt nun mit im Bett. Dieser Aspekt wird noch offensichtlicher, wenn Omi und Murphy kurz darauf zu »Mutter« beziehungsweise »Vater« werden. Im Zentrum, dem Wendepunkt von LOVE steht also ein weiblicher Blick auf Sexualität. Das männliche Gegenstück dazu sehen wir zum Beispiel in THE GRADUATE (1967), wenn Mrs. Robinson (Anne Bancroft) Benjamin (Dustin Hoffman) untersagt, sich mit ihrer Tochter Elaine (Katherine Ross) zu verabreden. Betrachten wir diesen Moment im Hotelzimmer nicht als ödipalen Konflikt, sondern als »normale« Liebesszene, wirkt sie sehr bewegend. Es ist das erste Mal, dass Mrs. Robinson die Maske fallen lässt, indem sie ihre Verletzbarkeit und die Brüche in ihrem Leben offenbart. Auch Benjamin spricht über seine Verliebtheit. Aus der sexuellen Erregung, aus dem Spiel der Verführung könnte mehr werden. Doch der Moment der Offenheit endet in erneutem Schweigen. Für Mrs. Robinson gibt es kein gutes Ende. Sie bleibt die tragische Figur in dieser Geschichte und wird schließlich durch die jüngere Frau ersetzt.

 

Elektra und Oedipus in The Graduate (1967) und Love (2015)
Abbildung 1 | Elektra und Oedipus

 

Einer Variation dieses Themas begegnen wir auch in James Grays TWO LOVERS, wo Leonard (Joaquin Phoenix) zwischen den beiden Frauen Michelle (Gwyneth Paltrow) und Sandra (Vinessa Shaw) schwankt. Dieser Film greift mehrere Aspekte der männlichen und der weiblichen Sexualität auf. Leonards Frauenbild ist von der Aufteilung in die Hure und die Heilige – oder die Mutter – geprägt. Auf Michelle bezieht sich sein erotisches Begehren, bei Sandra sucht er Trost und Rettung, wenn Michelle sich seinem Werben entzieht. Ist Leonards Konflikt ein ödipaler, dann ist Michelle im Vergleich zu Noés Film die deutlichere Elektra. In ihrer Figur sehen wir eine Frau, welche »die Freiheit und Unentschiedenheit ihrer ödipalen Situation unbedingt beibehalten will: Aus der Sicherheit einer Mutterbeziehung heraus den Vater oder die Männer weiter verführen zu wollen« (Wirtz 1998 a: 80). Was den Kontakttrieb angeht, sind LOVE und TWO LOVERS von dem Bedürfnis nach Anklammerung und der Tendenz zum Kleben am alten Objekt geprägt (vgl. Szondi 1972: 38 f.). Statt Vater zu sein, sucht Murphy nach einer Mutterfigur.

Der »positiven Triangulierung«, schreibt Rolf-Arno Wirtz, »steht die umgekehrte entgegen: Der oder die Dritte bleibt als das unerreichbare, aufreizende Objekt in der Phantasie anwesend und hat den Sinn, den Sexualpartner zu erniedrigen, um sich rächen zu können für die Ambivalenz der eigenen Mutter« (1998: 80). Dies erinnert an GONE WITH THE WIND (1939), wenn Rhett Butler (Clark Gable) fortgesetzt mit Ashley (Leslie Howard) konfrontiert wird, auf den Scarlett (Vivien Leigh) ihre Phantasien projiziert. In LOVE wird Murphys erotisches Begehren erst durch die Trennung geweckt. Im Gegensatz zur sexuellen Erregung bezieht es sich nämlich

auf die Lust und die Nähe, die man mit einer ganz bestimmten Person erleben will. […] Die Befriedigung des erotischen Begehrens ist das Eins-Werden mit der sexuellen Erregung und dem Orgasmus des Sexualpartners, Anteil zu haben an der Lust des Anderen ist das Zeichen der Liebe, das wir verlangen, und dies geht mit dem Gefühl einher, zugleich beide Geschlechter zu haben, vorübergehend die Barriere überwinden zu können, die normalerweise die Geschlechter voneinander trennt. […] Es ist sozusagen eine intersubjektive Transzendenz, die den Riss in unserer Existenz heilt « (ebd.: 76 f.).

Nachdem der Regisseur Murphy von einem Film aus »Blut, Tränen und Sperma« phantasiert hat – ein selbstironischer Kommentar Noés – sehnt er sich nun vielleicht danach, die Figur in einem konventionellen Liebesdrama zu sein.

Dramaturgie als Anatomie

Die Zerbrechlichkeit und Flüchtigkeit, welche die Verschmelzung des Paars im Koitus auszeichnet, wurde am Schönsten wohl in DON’T LOOK NOW (1973) dargestellt, wo die Liebesszene zwischen John und Laura Baxter (Julie Andrews und Donald Sutherland) bereits mit ihrer erneuten Trennung, dem Alltag danach, unterschnitten ist. In BLUE VALENTINE wird dieser Ansatz zu einem melancholischen Gesamtkonzept ausgeweitet: Statt der Signalfarbe Rot sehen wir nun in Blau getauchte Szenen, welche uns die erloschene Liebe der Partnerin (Michelle Williams) vor Augen führen. Diese werden immer wieder der Leichtigkeit der Anfangszeit gegenübergestellt. Was von der Erregung übrig bleibt, ist die »Leidenschaft des Genervt-Seins« (Wirtz 1998 a: 85). Die Beziehung ist nun von dem Berührungsverbot geprägt, das eine Verschmelzung ausschließt. Denn Cindy wirft Dean vor, dass er nichts aus seinem Leben macht. Dies führt zum Versagen der positiven Triangulierung:

In einer Welt, in der die Bilder der perfekten Männer oder Frauen allgegenwärtig sind, wird die ödipale Rivalität in der Phantasie oft hoffnungslos, und das reale Objekt wird durch die inneren Bilder ersetzt. Diese inneren Bilder sind keine Bilder der Metamorphose, sondern Abbilder der Medienbilder […] Wir sind dauernd damit konfrontiert, wieviel Potenzial wir haben brachliegen lassen. […] Es gibt keine Gatten mehr, die sich gegenseitig in einer körperlichen Nähe zum Schicksal machen. Stattdessen verringert sich die Zeitspanne zwischen Ehe und Scheidung auf null: Kaum verheiratet, fliegen sie auseinander, weil jeder ja seinen eigenen Weg gehen muss (ebd.: 80 f.).

Auch Gaspar Noé arbeitet – wie schon in IRREVERSIBLE (2002) – mit einer Diskontinuität der Handlung. Doch nun laufen die Ereignisse nicht mehr im Rückwärtsgang ab, wodurch eine Anatomie der Gewalt entsteht. In IRREVERSIBLE steht noch die Idee im Zentrum, dass Pathologen die besten Ärzte sind. Wenn Hitchcock in TORN CURTAIN (1966) zeigen will, wie brutal ein Mord ist, setzt Noé dem einen brutalen Hyperrealismus entgegen und dehnt seine Gewaltszenen an die Grenzen des filmisch Machbaren aus. Dies erinnert an die Anti-Schallplatten in Industrial und Noise, die beim Zuhörer körperlichen Schmerz auslösen und bei voller Lautstärke die Boxen zerstören (vgl. Akita 1995: 118-125). LOVE folgt einem anderen Ansatz: In Murphys Erinnerung vermischen sich die Zeitebenen. Sein Rückblick bleibt assoziativ. Die Psychoanalyse geht davon aus, dass in dem Ende einer Partnerschaft ihr Kernproblem deutlich wird. Zunächst erscheint die Zeugung mit Omi als ungewollt, obwohl diese schon vorher deutlich gemacht hat, wie sie zu einer Abtreibung steht. Doch schließlich entscheidet sich auch Murphy ganz bewusst gegen Electras Wunsch, Omi zu einem Schwangerschaftsabbruch zu drängen. Später entwertet Murphy diesen Entwicklungsschritt wieder. Für die Mutter seines Kindes empfindet er Verachtung und idealisiert stattdessen die zerstörerische Bindung zu Electra.

BLUE VALENTINE zeigt uns durch die dramaturgische Verknüpfung von Vergangenheit und Gegenwart, wie eng und doch unauflösbar Erregung und Gleichgültigkeit miteinander verbunden sind. LOVE unternimmt hingegen den verzweifelten Versuch, im Rückblick eine Erklärung für das Scheitern zu finden. Auch hier ist es die Form des Films, die den Pessimismus seiner Themen unterstreicht. Sie führt uns vor Augen, dass eine zusammenhängende Erzählung, welche der Gegenwart Sinn verleiht, nicht gefunden werden kann. TWO LOVERS sticht aus dieser Reihe heraus. Auch James Gray zeigt die Verführung nicht als Spiel, sondern als zerstörerische Falle. Auch hier wird die Hauptfigur nicht in eine Romanze, sondern in ein sadomasochistisches Abhängigkeitsverhältnis geführt. Aber Gray wählt die klassische Form der linearen Erzählung. Die Erklärung hierfür ist, dass TWO LOVERS ein Coming-of-Age-Film ist, der Leonard aus seinem Jugendzimmer in der elterlichen Wohnung wieder hinausführt. Doch das scheinbare Happy End ist vergiftet: Mit Sandra wählt Leonard eine neue Mutterfigur, die mehr mit Geborgenheit als mit Leidenschaft und erotischem Begehren zu tun hat.

»Nach der Orgie«

Was verraten diese Geschichten über unsere Vorstellungen von Sexualität und Partnerschaft? Hier gibt uns ein anderer Liebesfilm einen entscheidenden Hinweis: In (500) DAYS OF SUMMER (2009) trennt sich das Paar, kurz nachdem es THE GRADUATE im Kino gesehen hat. Diese Szene erinnert an eine andere Reminiszenz an Mike Nichols‘ Drama, die der Morphologe Dirk Blothner herausgearbeitet hat. Auch ihm geht es um das Verhältnis zwischen Vergangenheit und Gegenwart, jedoch aus einer psychohistorischen Perspektive. In Erlebniswelt Kino analysiert er durch einen Vergleich von THE GRADUATE und Quentin Tarantinos JACKIE BROWN (1997) den Kulturwandel, der sich innerhalb einer Generation vollzogen hat: Waren die sechziger Jahre noch von einer Aufbruchsstimmung gegen ein miefiges und erstarrtes Normgerüst geprägt, kommt es am Ende der neunziger Jahre zu einer Gegenbewegung. Die Anfangseinstellungen beider Filme zeigen, wie die jeweilige Hauptfigur – Benjamin Braddock beziehungsweise Jackie Brown (Pam Grier) – am Flughafen ankommt und gedankenversunken auf einem Rollband steht. Ihre Blicke sind nicht auf ein konkretes Ziel gerichtet, sondern gehen ins Leere. Ihr Gleiten durch den Raum deutet einen inneren Schwebezustand an. Beide Figuren streben nach einer Veränderung ihres Lebens, doch die Konflikte könnten unterschiedlicher nicht sein. Während Benjamin und seine Freundin Elaine sich gegen das bigotte Spießbürgertum ihrer Eltern auflehnen und am Ende aus dem erdrückenden Korsett der Gesellschaftsregeln fliehen, suchen Jackie Brown und ihr Partner Max Cherry (Robert Forster) nach Stabilität, wollen sesshaft werden (vgl. Blothner 1999: 213-217). Das ältere Paar aus dem jüngeren Film repräsentiert nicht nur einen späteren Lebensabschnitt, sondern gleichzeitig die Generation »nach der Orgie«, um mit Jean Baurillard zu sprechen (1992: 9-20). Dieser Ausblick, und das macht die Finesse des Films aus, ist auch schon im Ende von THE GRADUATE enthalten: Nachdem Benjamins und Elaines Flucht gelungen ist, werden ihre Gesichter merkwürdig emotionslos. Dies erinnert an Benjamins Ausdruck am Beginn der Geschichte. Wenn das Paar nun stumm nebeneinander im Bus sitzt, ahnen wir bereits, wie seine Zukunft aussehen wird. Die Befreiung ist ein Pyrrhussieg. Die Enge ist lediglich durch die Leere ersetzt worden, und nicht durch echte Freiheit. Der Moment der Lebendigkeit, den das junge Paar gefühlt hat, war nur von kurzer Dauer, die Flucht ist flüchtig. Dies erinnert an Raoul Dukes (Johnny Depp) Monolog in FEAR AND LOATHING IN LAS VEGAS (1998):

San Francisco in the middle sixties was a very special time and place to be a part of. But no explanation, no mix of words or music or memories can touch that sense of knowing that you were there and alive in that corner of time in the world, whatever it meant. […] That sense of inevitable victory over the forces of old and evil. Not in any mean or military sense. We didn’t need that. Our energy would simply prevail. We had all the momentum. We were riding the crest of a high and beautiful wave. So now, less than five years later, you can go up on this steep hill in Las Vegas and look west. And with the right kind of eyes you can almost see the high water mark, that place, where the wave finally broke and rolled back.

Unter diesem Aspekt können wir JACKIE BROWN als Fortsetzungsgeschichte von THE GRADUATE sehen, als Ausdruck für die tiefe Sehnsucht nach Orientierung in dem, was die Morphologen als »Auskupplungskultur« bezeichnen:

Die Menschen verstehen sich immer weniger als Teil eines gesellschaftlichen Ganzen. Immer seltener sind sie in Entwicklungen von Anfang bis Ende einbezogen, halten sie sie für längere Zeit an ein und derselben Sache fest. Stattdessen schalten sie nach kurzer Zeit um wie mit den Tasten ihrer Fernbedienung, nehmen Dienstleistungen in Anspruch und überlassen sich den Strömungen der vielfältigen Medienangebote. Bevor sie eine Sache durchstehen, wechseln sie lieber das Programm, den Partner oder gleich das Milieu. Das läßt sie freier erscheinen als je zuvor, das macht sie allerdings auch anfälliger für Zwänge, die in dieser Welt der Entscheidungsfreiheit Orientierung versprechen (Blothner 1999: 215).

Hier drängt sich ein weiterer Vergleich auf: Auch ROMANCE und LOVE beziehen sich auf Vorgängerfilme. Sie sind das späte, resignative Echo auf die Orgien in Bernardo Bertoluccis ULTIMO TANGO A PARIGI (1972) und Nagisa Ōshimas AI NO KORĪDA (1976).

 

The Graduate (1967) und Jackie Brown (1997) im Vergleich
Abbildung 2 | Vor und nach der Orgie

 

»Zwischen Fluch und Utopie«

Die Filmauswahl in diesem Artikel kann nicht für ein komplettes Genre stehen. Die Parallelen in Themenauswahl, Dramaturgie und Inszenierung sind nicht repräsentativ. Aber sie sind signifikant. LOVE, TWO LOVERS und BLUE VALENTINE erzählen nicht vom Ideal der Paarbindung, sondern von Liebe und Sexualität als Trauma.

Wir alle wählen höchstwahrscheinlich das Objekt, mit dem wir unsere tiefsten Verletzungen wiedererleben können in der Hoffnung, mit diesem Objekt zu einer glücklicheren Lösung zu kommen. Das Trauma hat eine einfache Struktur: Es ist das Erleben des unerbittlichen Desinteresses, welches die Natur an uns hat, vermittelt durch eine geliebte oder begehrte Person (Wirtz 1998 a: 73).

Der Hyperrealismus und die Diskontinuität, welche die Filme auszeichnet, machen diese Unbarmherzigkeit zur Erzählform. »Gott hat sich zurückgezogen und die objektiven Gesetzmäßigkeiten als seinen Schatten zurückgelassen«, schreibt Rolf-Arno Wirtz. »In diesem Schatten gibt es keine starken Illusionen mehr« (ebd.: 73 f.). Es gibt auch keine Erzählung mehr, die uns im Rückblick trösten und dem Erlebten Sinn verleihen könnte.

Die Gleich-Gültigkeit ist heute zur vorherrschenden Utopie geworden. Als dunklen Begleiter führt sie jedoch das Desinteresse mit sich. Denn wenn alles die gleiche Gültigkeit hat, gibt es auch keine Neu-Gier mehr: »Nur durch die Begegnung mit dem Fremden sind wir in der Lage, uns selbst neu zu betrachten und finden zu können« (Vogt 2011: 26). Mit Viagra haben sich die Männer für die »Pille« gerächt und ersetzen die Abhängigkeit von einer Frau durch die Abhängigkeit von einem Mittel (Wirtz 1998 b: 18). Nun können sich beide Geschlechter auf die Unbestimmtheit zurückziehen und sagen: »Ich habe zwar mit dir geschlafen, aber du mußt nicht denken, daß es mir Spaß gemacht hat« (ebd.).

Gaspar Noés LOVE zeigt, wie lustlos und zerstörerisch die Lust wird, wenn sie von der Zeugung abgekoppelt ist. Und gemeinsam mit BLUE VALENTINE zerstört er die Idee des Liebesfilms von der Freiheit des Paares in der Gebundenheit:

[H]eute wird die äußere und innere Freiheit höher bewertet als die äußere und innere Bindung. Schon der Ersatz des Wortes Bindung durch das labbrige Wort Beziehung bringt dies zum Ausdruck (Wirtz 2011: 30).

In seinem Aufsatz Der Hitchcocksche Schnitt: Pornographie, Nostalgie, Montage geht Slavoj Žižek auf den klassischen Film Noir ein. Er stellt fest, dass unsere Haltung gegenüber Filmen wie CRISS CROSS (1949), THE BIG SLEEP (1946) oder OUT OF THE PAST (1947) »gespalten [ist] zwischen ironischer Distanz und Faszination« (Žižek 2002 a: 54): Wir können uns einerseits nicht mehr mit den dargestellten Konflikten identifizieren, sind aber gleichzeitig »fasziniert vom Blick des mythischen, ›naiven‹ Zuschauers, der ›das noch ernst nehmen konnte‹« (ebd.). Hier funktioniert Film wie eine Quellsprache: Beim Sprechen vollziehen wir permanent die komplette Kulturgeschichte nach. Denn »hinter jedem Wort [liegt] eine tiefer liegende, die ursprüngliche Entstehung des Wortes begleitende Bedeutung«, wie der Psychoanalytiker Jürgen Vogt erläutert (2008: 64). Auch bei der Auseinandersetzung mit Kunst vergleichen wir »bewusst oder unbewusst die eigenen ›Sehgewohnheiten‹ mit dem Zeitgeist oder der Seelenvorstellung, die im Buch, Film oder Gemälde Gestalt annimmt« (Schumacher 2008: 40). Was wird die kommende Generation wohl über unseren heutigen Blick denken, und welche Liebesdramen werden im Kino folgen?

 

Street Art zum Thema Liebe und Partnerschaft
Abbildung 3 | »Zwischen Fluch und Utopie«

 


Quellen

Akita Masami (1995)
»Antischallplatten«. In: Martin Büsser u. a. (Hg.): testcard: Pop und Destruktion. Mainz. S. 118-125

Baudrillard, Jean (1992)
»Nach der Orgie«. In: ders.: Transparenz des Bösen. Ein Essay über extreme Phänomene. Berlin. S. 9-20

Blothner, Dirk (1999)
Erlebniswelt Kino. Über die unbewußte Wirkung des Films. Bergisch Gladbach

Schumacher, Holger (2008)
Die Grauzone. Zur Problematik des Kunstbegriffs. Unveröffentlichtes Manuskript

Szondi, Leopold (1972)
Lehrbuch der experimentellen Triebdiagnostik. Bern

Vogt, Jürgen (2011)
»Was ist männlich, was ist weiblich?«. In: Deutsche Gesellschaft für Sozialanalytische Forschung (Hg.), Das Leben passiert, während man sich andere Pläne macht. Zwischen Grundmangel und Neubeginn. Köln, S. 13-29
ders. (2008)
»Was ist deutsch?«. In: Jürgen Junglas (Hg.): Kultur der Therapie der Kulturen. Psychotherapie und Psychiatrie mit Migrationshintergrund. Bonn.

Wirtz, Rolf-Arno (2011)
»Anmerkungen zum Geschlechtsunterschied«. In: Deutsche Gesellschaft für Sozialanalytische Forschung (Hg.), Das Leben passiert, während man sich andere Pläne macht. Zwischen Grundmangel und Neubeginn. Köln, S. 30-34
ders. (1998 a)
»Die Sexualität zwischen Fluch und Utopie. Von der abweichenden zur ausweichenden Sexualität«. In: Deutsche Gesellschaft für Sozialanalytische Forschung (Hg.), Landschaften der Sexualität. Köln, S. 72-95
ders. (1998 b)
»Statement zur Tagung der Deutschen Gesellschaft für Sozialanalytische Forschung«. In: Deutsche Gesellschaft für Sozialanalytische Forschung (Hg.), Landschaften der Sexualität. Köln, S. 20-27

Toronto International Film Festival (2016)
[Webquelle: https://www.youtube.com/watch?v=lh07tJMR-3c] [TC: 41’48“]

Žižek, Slavoj (2002 a)
»Der Hitchcocksche Schnitt: Pornographie, Nostalgie, Montage«. In: Ders. u. a. (Hg.), Was Sie immer schon über Lacan wissen wollten und Hitchcock nie zu fragen wagten. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 45-69
ders. (2002 b)
»Alfred Hitchcock oder Die Form und ihre geschichtliche Vermittlung«. In: Ders. u. a. (Hg.), Was Sie immer schon über Lacan wissen wollten und Hitchcock nie zu fragen wagten. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 11-23


Abbildungen

Titelbild
Filmstills aus:
Love (F, B 2015), Two Lovers (USA 2008), Blue Valentine (USA 2010)

Abb. 1
Filmstills aus:
Love, The Graduate (USA 1967)

Abb. 2
Filmstills aus:
The Graduate, Jackie Brown (USA 1997)

Abb. 3
Street Art:
© STRASSENMAID
Collage:
© Holger Schumacher