Wahl und Schicksal im Coming-of-Age-Genre
So hat sich Mortimer Brewster den schönsten Tag seines Lebens nicht vorgestellt: Kurz vor der Abreise in die Flitterwochen erfährt er, dass seine komplette Familie aus Massenmördern besteht. Mortimers Tanten vergiften alleinstehende Männer, und sein Bruder Jonathan ist ein sadistischer Schwerverbrecher auf der Flucht vor der Polizei. Der zweite Bruder Teddy ist da noch der Harmloseste – er hält sich lediglich für den Präsidenten der Vereinigten Staaten. Sein Größenwahn wird aber von den Tanten dazu instrumentalisiert, die Leichen ihrer Opfer zu beseitigen. Sie gaukeln Teddy vor, ihre Mordopfer seien an einer Gelbfieberepidemie gestorben.
Aus Furcht, nun selbst verrückt zu werden, ist Mortimer kurz davor, die Bindung an seine Ehefrau Elaine wieder aufzulösen. Doch nach mehreren haarsträubenden Wendungen gelingt es ihm schließlich, die Situation zu entschärfen: Jonathan wird von der Polizei festgenommen, Teddy und die Tanten ziehen in eine psychiatrische Heilanstalt um. Die »Leichen im Keller« bleiben indes unentdeckt. Als Mortimer erfährt, dass er kein Blutsverwandter der Brewsters ist, sondern adoptiert wurde, kann er das erste Mal aufatmen. Der Fluch der Familie betrifft ihn nicht mehr, und der Weg zur Hochzeitsreise ist endlich frei. Die klassische Screwball-Komödie trägt hier die Züge eines Coming-of-Age-Dramas.
Der geneigte Leser erkennt in dieser Geschichte von ARSENIC AND OLD LACE (1944) auf Anhieb Leopold Szondis Theorie des familiären Unbewussten wieder. Der ungarische Psychoanalytiker ergänzt damit die Modelle Sigmund Freuds und C. G. Jungs, die von einem persönlichen beziehungsweise kollektiven Unbewussten ausgehen. Im Gespräch mit Georg Gerster fasst Szondi dies als die »drei Sprachen des Unbewussten« zusammen (Gerster 1956: 34): Bei Freud sei es die »Symptomsprache«, bei Jung eine »Symbolsprache« und in der Schicksalsanalyse die »Wahlsprache« (ebd.: 35 f.). Dreht man dieses Triptychon um 90 Grad, erscheint das Seelische als dreistöckiges Gebäude. Darin nimmt das familiäre Unbewusste Szondis dann den Platz des »mittlere[n] Geschoß« ein, wie Gerster es formuliert (ebd.: 35).
In der Belletristik taucht diese Idee schon viel früher auf. Die Insel-Taschenbuch-Ausgabe von E. T. A. Hoffmanns Die Elixiere des Teufels aus dem Jahr 1978 zeigt im Anhang der Geschichte eine Stammtafel der Hauptfigur Medardus, die darüber Auskunft gibt, welches Familienmitglied durch Inzest oder uneheliche Abstammung geboren ist. Hier noch auf die biologische Komponente reduziert, verarbeitet Hoffmann die Idee des familiären Unbewussten literarisch. Denn der »Fluch der Ahnen« erklärt, warum das Leben der betreffenden Figur in einer Tragödie endete. Der Kulturwissenschaftler Maximilian Bergengruen hat über das Motiv der phylogenetischen Weitergabe seelischer Eigenschaften in Hoffmans Roman einen aufschlussreichen Essay geschrieben (2009). Das gleiche Motiv begegnet uns auch in Theodor Storms Novelle Aquis Submersus (1877). Als die Hauptfigur Johannes hier an einer an einer Galerie von Ahnenportraits seines Widersachers entlanggeht, entdeckt er mit Schrecken dessen Charakterzüge in der Physiognomie einer Urahnin wieder: »Wie räthselhafte Wege gehet die Natur! Ein saeculum und drüber rinnt es heimlich wie unter einer Decke im Blute der Geschlechter fort; dann, längst vergessen, taucht es plötzlich wieder auf, den Lebenden zum Unheil«.
In ARSENIC AND OLD LACE verarbeitet Frank Capra diese Idee auf komödiantische Weise: Während man den höflichen Tanten ihren Wahnsinn nicht ansieht, erinnert bereits das Gesicht des Bruders Jonathan – ein Running Gag des Films – an Frankensteins Monster. Als Mortimer auf die Geschichte seiner vermeintlichen Vorfahren zurückblickt, erkennt er die Spur des Wahnsinns als einen roten Faden: »Meine Familie ist geisteskrank, alle miteinander. […] Das datiert bis zum ersten Brewster zurück, der damals mit den Pilgern rüberkam. Du weißt doch, wie damals die Indianer die Siedler skalpierten. Er hat die Indianer skalpiert«! Die vom Großvater vererbte Sammlung an tödlichen Substanzen, die seine Tanten ihren Opfern einflößen, droht nun, auch Mortimers seelische Gesundheit sowie seine Ehe zu vergiften.
Entwicklung als Entgiftung
Leopold Szondi ist die psychologische Erklärung dieses Phänomens zu verdanken. Wie Alois Altenweger erläutert, führt Szondi »eine neue Theorie der menschlichen Wahlhandlungen in die Psychologie ein. Diese liess die schicksalsprägenden Handlungen des Menschen wie die Wahl von Partnern, Freunden, des Berufes, der Krankheit und selbst der Todesart in einem völlig neuen Licht erscheinen« (2012: 12. Rechtschreibung im Original). Wenn Filme unser Leben und Erleben widerspiegeln, dann lässt sich Szondis Schicksalsanalyse auf die Geschichten ihrer Figuren, also auf filmische Narrationsmodelle, anwenden. Die Dramaturgie guter Drehbücher basiert in der Regel darauf, dass die Hauptfigur zwischen zwei Werten schwankt und schließlich erkennen muss, dass das, was sie bewusst will, nicht ihren unbewussten Bedürfnissen entspricht. Dies ist der Gegensatz zwischen Want und Need des Helden.
In Oliver Stones WALL STREET (1987) zum Beispiel hat Bud Fox zwei Väter: Zunächst folgt er dem Vorbild des Finanzhais Gordon Gekko und gelangt dadurch zu Wohlstand und Prestigeobjekten. Erst durch die Konfrontation mit dem Wertesystem seines leiblichen Vaters Carl entscheidet sich Bud dazu, sich von seinem Ziehvater abzuwenden und die in ihm wohnenden Talente für etwas Produktives einzusetzen; zu geben statt zu nehmen. Eine ähnliche Entwicklung zeigt uns Garry Marshalls drei Jahre später gedrehter Film PRETTY WOMAN (1990). Mit Szondi verstehen wir die Genialität, die Stones Familiendrama Marshalls Liebeskomödie voraushat. Dann wird klar, dass der Film um die Konflikte kreist, die mit der Ich-Einengung (Egosystole) zu tun haben.
Im Triebmodell Szondis ist die Egosystole durch das Spannungsverhältnis zweier gegensätzlicher Kräfte charakterisiert. Der erste Pol ist die Introjektion: Das ist die Tendenz zur Einverleibung, zum Egoismus, zum Aufbau von Besitz- und Objektidealen sowie zur Macht durch Haben (Szondi 1972: 38 f.). Dieser Teil unserer Ich-Kräfte funktioniert wie ein gigantischer Schwamm oder Staubsauger, der alle Informationen in das Seelische aufnimmt. »Das Kind introjiziert zunächst, quasi wie in einem Raubzug, die komplette psychische Struktur der Eltern, ohne zwischen Gift und Nahrung zu unterscheiden« (Vogt 2013: 5). In der beruflichen Sozialisation entstehen daraus unter anderem die ökonomischen Berufe, die mit der Anhäufung von Besitz und Kapital zu tun haben. In der pathologischen Erscheinungsform werden aus dieser Tendenz weit bedenklichere Raubzüge als im Kleinkindalter: Dann sind wir im Bereich von Diebstahl, Einbruch und Finanzkriminalität.
Die Gegenkraft zur Introjektion ist die Negation, die eine stellungnehmende Funktion einnimmt. Sie weist die Tendenz zu Verzicht, Verdrängung und zur Anpassung an das Kollektiv auf (Szondi a. a. O.). Diese Kraft dämmt die Tendenz des Ich ein, sich grenzenlos aufzublähen und auszuweiten (Inflation beziehungsweise Projektion) und sorgt dafür, dass nicht alle aufgesogenen Introjekte in das Bewusstsein gelangen. Das ist die Ich-Funktion, die wir als Verdrängung kennen. In der sozialisierten Form ergeben sich daraus Berufsbilder, die mit Kritik oder mit sozialem Humanismus zu tun haben (vgl. ebd.: 43).
Frappierend ist, wie Oliver Stone durch die Wahl seines Themas dem psychologischen Konflikt der Hauptfigur eine größere Tiefe und Anschaulichkeit verleiht. Legen wir Szondis Ideen zu Grunde, dann zeigt die Verbindung von väterlichem Vorbild mit kriminellen Finanzgeschäften, dass Bud Fox, der räuberische »Fuchs«, den stellungnehmenden Anteil seines Ich noch nicht weit genug entwickelt hat. Dies gelingt ihm erst, als er seine Fähigkeiten für etwas sozial Positives verwendet. Fassen wir Carl Fox und Gordon Gekko überdies als zwei rivalisierende Anteile einer Vaterfigur auf, erhält Buds Geschichte eine weitere psychologische Facette: Auch hier geht es um eine Stellungnahme, aber in Bezug auf das familiäre Unbewusste. Es ist die Notwendigkeit, sich über die Ahnenansprüche klar zu werden und frei zu wählen: Was von unseren Eltern müssen wir in den Giftschrank packen, weil es uns schadet, womit können wir hingegen lebenszugewandt arbeiten? WALL STREET ist eine Coming-of-Age-Story im Sinne Szondis: Bud lässt die kindliche, räuberische Introjektion hinter sich und lernt, zwischen Nahrung und Gift zu unterscheiden.
Zwischen Entwicklung und Stagnation
ARSENIC AND OLD LACE sowie WALL STREET gewähren uns einen positiven Ausweg aus diesem seelischen Dilemma. Während Mortimer Brewster jedoch versucht, das Problem zu verdrängen, indem er die Verantwortung auf Teddy schiebt, und lediglich durch einen deus ex machina gerettet wird, muss Bud Fox bewusst um eine positive Wendung seines Schicksals ringen. Das Gegenbild hierzu zeigt uns Francis Ford Coppola in THE GODFATHER (1972): Obwohl Michael Corleone zu Beginn des Films wie ein Fremdkörper in der eigenen Familie wirkt und ihre kriminellen Aktivitäten ablehnt, wählt er im Lauf des Films schließlich die negativen Eigenschaften seines Vaters als Lebensentwurf, nimmt dessen Platz als neuer Pate der Mafiafamilie ein. Die Ratschläge von Vito Corleone führen zu einer Verschlagenheit in Michaels Charakter. Er gerät in den Sog von Wahnsinn und Massenmord, dem Mortimer Brewster entrinnen will. Während dieser mit Elaine von seinem erdrückenden Elternhaus in die Welt aufbricht, sitzt Michael am Ende des Films im düsteren Arbeitszimmer des Vaters und verstößt sogar die Frau, welche seine positiven Eigenschaften nähren könnte. Die heruntergezogenen Jalousien isolieren ihn von der Außenwelt, als wollte Coppola den Sieg der Introjektion über das stellungnehmende Ich unterstreichen. Die Bedrängtheit des äußeren Raums spiegelt hier den Egozentrismus der Figur wieder. Was von Michael übrigbleibt, ist eine leere Hülle, aus der sein Vater spricht. Der Kampf um Selbstbestimmung ist verloren, und es wirkt wie eine seelische Kapitulationserklärung des früheren Soldaten, wenn er seinem Bruder Fredo das Familienmotto herunterbetet: »Don’t ever take sides with anyone against the family again«.
Coming of Age und die Schicksalsanalyse
Wenn wir an andere Coming-of-Age-Geschichten denken, zum Beispiel an THE GRADUATE (1967), THE BREAKFAST CLUB (1985), GOOD WILL HUNTING (1997), BILLY ELLIOT (2000), oder an James Grays Filme THE YARDS (2000) und WE OWN THE NIGHT (2007), dann beinhaltet die Entwicklung vom Jugendalter in die Erwachsenwelt und der damit einhergehende shock of recognition eine Auseinandersetzung mit der eigenen Familie. Geht es um eine seelische Krise, die in Reifung oder Stagnation münden kann, ist dies mit der Frage des Helden verbunden: Übernehme ich die Werte meiner Eltern oder transformiere ich sie? Hier kann die Schicksalsanalyse Leopold Szondis zu einem tieferen Verstädnis filmischer Narrationsmodelle beitragen.
Filme als Kunstwerke – das ist das Fazinierende an ihnen – sind oft visionärer und tiefschöpfender als so mancher Universitätsdiskurs. Wenn es um die Aufführung im Kino geht, sprechen wir auch von einer »Vorstellung« oder »Projektion«, weil hier Bilder aus den Tiefenschichten der Seele auf die Leinwand und damit in die Gemeinschaft des Kinosaals projiziert werden, die unsere Denkmuster herausfordern und infrage stellen. BACK TO THE FUTURE (1985) zum Beispiel zeigt uns eine spannende Variante des Familiendramas: Marty McFly muss eine Reise in die eigene Stammesgeschichte antreten, damit er überhaupt geboren wird. Scheitert er dabei, erlischt seine physische Existenz und damit auch sein Abbild auf den Familienfotos. Während des Zeugungsakts ist das Kind als Vorstellung präsent, schaut bereits als dritte Person »um die Ecke«. Ist die scheinbar harmlose Komödie deshalb so erfolgreich, weil sie die psychoanalytische Frage aufgreift, wie wir es schaffen, unsere Eltern zusammenzubringen?
Literatur
Altenweger, Alois (2012)
»75 Jahre Schicksalsanalyse von Leopold Szondi«. In: á jour 49. Zürich
Bergengruen, Maximilian (2009)
»Der Weg allen Blutes. Vererbung in E.T.A. Hoffmanns ›Die Elixiere des Teufels‹«. In: B. Auerochs (Hg.): Einheit der Romantik? Zur Transformation frühromantischer Konzepte im 19. Jahrhundert. Paderborn. S. 149-172
Szondi, Leopold (1972)
Lehrbuch der Experimentellen Triebdiagnostik. Band I. Bern
Vogt, Jürgen (2013)
»Tagträumer und Selbstzerstörer«. In: Deutsche Gesellschaft für Sozialanalytische Forschung (Hg.): Selbstausbeutung oder Beute machen. Die Schwierigkeit, ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Köln. S. 3-9
Abbildungen
Titelbild
Filmstills aus:
Arsenic and Old Lace. Frank Capra. US. 1944
The Godfather. Francis Ford Coppola. US. 1972
Wall Street. Oliver Stone. US. 1987
Filme
Arsenic and Old Lace. Frank Capra. US. 1944
Back to the Future. Robert Zemeckis. US. 1985
Billy Elliot – I Will Dance. Stephen Daldry. GB. 2000
Good Will Hunting. Gus Van Sant. US. 1997
Pretty Woman. Garry Marshall. US. 1990
The Breakfast Club. John Hughes. US. 1985
The Godfather. Francis Ford Coppola. US. 1972
The Graduate. Mike Nichols. US. 1967
The Yards. James Gray. US. 2000
Wall Street. Oliver Stone. US. 1987
We Own the Night. James Gray. US. 2007